Essen. Mindestens acht Wochen müssen Bewohner eines Hochhauses in Essen-Freisenbruch ohne Aufzug auskommen. Ein Ortstermin im Bergmannsfeld.
Die Mieter des Hochhauses Erasmusstraße 2 in Essen-Freisenbruch sind buchstäblich außer Atem. Erst im Sommer war der Aufzug tagelang außer Betrieb, jetzt geht für mindestens acht Wochen schon wieder nichts. „Ihre Aufzugsanlage wird modernisiert“ heißt es in den Aushängen des Vermieters LEG Wohnen. „Hier im Haus sind alle sauer auf die LEG“, fasst Mieterin Brigitte Klink die allgemeine Missstimmung zusammen.
Der 68-Jährigen setzt der abrupte Aufzug-Stopp besonders hart zu. Schwer an der Lungenkrankheit COPD erkrankt, ist sie bereits seit fast einem Monat an das Appartement hoch oben im 10. Stock gefesselt. Sie kommt nicht mehr vor die Tür.
Mieterin: „Ich käme zwar runter, aber bestimmt nicht wieder hoch“
Mit Mischlingshündin Nala durchs Viertel spazieren oder Lebensmittel einkaufen – das alles ist für die Mieterin seit dem 22. September, dem ersten Tag der Aufzug-Modernisierung, undenkbar. „Ich käme zwar runter, aber bestimmt nicht wieder hoch.“
Eine Reihe von Arztterminen habe sie bereits absagen müssen, allmählich falle ihr die Decke in der 54-Quadratmeter-Wohnung auf den Kopf. Zum Glück legt sich ihr Ehemann Peter mächtig ins Zeug. Er übernimmt das Gassigehen, den täglichen Einkauf und alle andere Besorgungen, die anfallen. Auch die Tochter schaut immer wieder vorbei.
Doris (74) und Harry (80) Osbahr wohnen in Etage fünf – in zwei Zimmern auf 69 Quadratmeter. Die Malerin hat 67 Jahre in Caracas gelebt, spricht fließend Spanisch. Ihr Mann war noch länger in Venezuela. Erst seit vier Jahren leben sie wieder in „Alemania“, dem Land, in dem sie vor Jahrzehnten geboren sind. Sie hatte Anfang des Monats einen Herzinfarkt, er muss drei Mal pro Woche zur Dialyse.
Anschaulich schildert Doris Osbahr, wie zwei starke Helfer ihren Mann samt Rollstuhl schon seit vier Wochen auf beschwerliche Weise durchs enge Treppenhaus wuchten müssen, damit er die überlebenswichtige Dialyse wahrnehmen kann. Ein unhaltbarer Zustand.
Rentner-Ehepaar zieht aus Verzweiflung vorübergehend aus: „Ich werde sonst verrückt“
Deshalb werden sie – adios Essen – am Dienstag vorübergehend ausziehen. In der Nähe ihres Sohnes bei Freiburg haben sie über die Plattform Airbnb aus lauter Verzweiflung eine Ferienwohnung angemietet. In den elf Tagen bezahlen sie rund 600 Euro – genau so viel wie für die Essener Wohnung im ganzen Monat. „Aber wir müssen das machen“, sagt sie, „andernfalls würde ich verrückt werden“. Ihr Mann sei drei Wochen im Krankenhaus und drei Wochen im Pflegeheim gewesen. „Er braucht unbedingt Bewegung.“
Peter Klinik wirft dem Vermieter LEG Wohnen vor, erst wenige Tage vorher über die Aufzugsmodernisierung informiert worden zu sein. „Hätte ich es rechtzeitig gewusst, hätte ich noch Vorräte anlegen können.“ Nun müsse er immer wieder Konserven, Hundefutter, Getränke und Katzenstreu ranschleppen. Ein LEG Wohnen-Sprecher schildert hingegen andere zeitliche Abläufe: „Unsere Mieterinnen und Mieter wurden bereits im August durch Aushänge über die Baumaßnahme informiert.“
LEG Wohnen bietet Tragedienst und Einkaufsservice ein
LEG Wohnen weist darauf hin, dass bei Aufzugsausfällen „bei Bedarf Tragedienste und Krankentransporte“ zur Verfügung gestellt würden. „Mieterinnen und Mieter, die bereits auf uns zugekommen sind, haben wir mit einem sozialen Träger versorgt“, so der Sprecher. Ferner habe die Wohnungsgesellschaft einen Einkaufsservice eingerichtet, der den Mietern die Lebensmittel bis in die Wohnung trage. Doch Peter Klink findet die Uhrzeiten (montags 10 bis 14 Uhr, mittwochs 11 bis 15 Uhr, freitags 8 bis 12 Uhr) zu knapp bemessen und zumindest die Zeiten am Freitag viel zu früh gewählt.
Von den 42 Mietparteien sind die meisten Rentner, das Hochkraxeln geht vielen an die Substanz. Keiner lebt in dem Hochhaus so lange wie Hans-Günter Urbig (82). Er gehörte 1970 zu den ersten, die hier eingezogen sind. An diesem Montagmorgen hat er zwei Jutebeutel an der Hand. „Meine Frau und ich waren gerade bei Rewe einkaufen“, sagt der pensionierte Girardet-Drucker, der trotz seiner Herzprobleme rüstig wirkt. Seiner Frau falle das Treppensteigen nicht so leicht, sie müsse sich zwischendurch mal auf einen Stuhl setzen. Ihre Waschmaschine steht im Keller.
Eine weitere Mieterin aus der zehnten Etage treffe die achtwöchige Aufzugpause hart, heißt es im Haus. Die Frau leide unter den Folgen eines Beckenbruchs, sie müsse regelmäßig zur Physiotherapie. 160 Stufen runter und wieder hoch – das sei eine Zumutung.
Kiffer und Dealer im Treppenhaus: „Im Dunkeln gehe ich nicht mehr raus“
Die Klinks leben seit 2016 in dem Hochhaus und genießen vom Balkon aus den Blick über die Ruhr hinweg bis weit nach Hattingen. Im Maschinenraum in der elften Etage über ihnen sind Monteure der Aufzugsfirma an diesem Vormittag dabei, Löcher in den Beton zu bohren. Der Lärm dringt fast durchs ganze Haus.
Immerhin: Es geht voran. Die alte Aufzugsanlage ist bereits demontiert, unten vor dem Haus liegen schon die gerade angelieferten neuen Aufzugtüren unter gelbe Folie. Doch die meisten Mieter glauben nicht an das Versprechen des Vermieters, dass sich am 19. November die Türen zum neuen Aufzug öffnen. Selbst LEG Wohnen räumt ein: „Wir können derzeit noch keine Aussagen machen, ob es während der Modernisierungsmaßnahme zu Verzögerungen kommt – Ersatzteile sind keine Lagerware, was leider manchmal zu Wartezeiten führt.“
Marktführer an Rhein und Ruhr
Auch im Nachbar-Hochhaus Erasmusstraße 4 modernisiert LEG Wohnen die Aufzugsanlage. Die Bauarbeiten haben an diesem Montag (18. Oktober) begonnen.Die Wohnungsgesellschaft weist nicht nur auf den Einkaufsservice hin. Samstags werde auch ein 14-tägiger Brötchendienst angeboten, so ein Sprecher.LEG Wohnen mit Sitz in Düsseldorf gehörte vor der Privatisierung dem Land NRW und der NRW Bank. Mit 145.000 Wohnungen ist das Unternehmen die größte Wohnungsgesellschaft an Rhein und Ruhr.
In den Frust der Mieter über das aktuell anstrengende Leben im Hochhaus ohne Aufzug mischt sich die Angst vor dem schleichenden Niedergang des Wohnviertels im Bergmannsfeld, einem sozialen Brennpunkt. „Wir haben Kiffer und Dealer im Haus, im Treppenhaus stinkt es manchmal so sehr, dass mir schlecht wird. Vor wenigen Tagen wurde eine Frau abgestochen, ich traue mich im Dunkeln nicht mehr raus“, sagt Brigitte Klink.