Essen. Die AOK will nach dem doppelten Klinik-Aus den Emotionen nüchterne Zahlen gegenüberstellen. Und findet: Alles nicht so schlimm, wie es aussieht.
Wo die Volksseele kocht, da lässt sich schlecht diskutieren. Vielleicht auch deshalb haben sich die Fachleute der Gesundheitsbranche erst einmal zurückgehalten, als zwei geschlossene Krankenhäuser ausgerechnet im Corona-Jahr 2020 die Menschen im Essener Norden auf die Palme brachten. Doch so ärgerlich der Verlust der ortsnahen Krankenhaus-Versorgung auch war und noch immer ist – Oliver Hartmann, Regionaldirektor der AOK, empfiehlt, auf den zweiten nüchternen Blick lieber Zahlen als Emotionen sprechen zu lassen. Und glaubt: So schlimm, wie mancher die Lage empfindet, ist sie gar nicht.
Seine Argumente für diese mildere Sicht auf die Dinge entnimmt Hartmann nicht zuletzt dem soeben erschienenen „Gesundheits-Report“ der AOK für 2021, der die Versorgung im Essener Stadtgebiet mit der andernorts vergleicht. Unzählige Daten, die für ihn, etwas zugespitzt und mit leichtem Augenzwinkern versehen, nur einen Schluss zulassen: „Wenn schon krank werden, dann in Essen.“
Auf je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kommen in Essen 871 Klinikbetten
Das betrifft die hausärztliche Versorgung genauso wie die mit Fachärzten und erst recht das stationäre Angebot: 959 Krankenhausbetten je 100.000 Einwohner zählte Essen im Vor-Corona-Jahr 2019, ein Angebot, mit dem die Stadt in der Region der AOK Rheinland/Hamburg hinter Bonn auf dem zweitbesten Platz landete. Selbst wenn man die Betten der beiden geschlossenen Kliniken im Norden herausrechnet, liegt die Behandlungskapazität noch bei 871 Klinikbetten pro 100.000 Einwohner.
Das reicht immer noch für Platz 6 der AOK-Statistik und damit für einen Rang vor Düsseldorf (811) und Oberhausen (694), Hamburg (693) oder Köln (651). Der NRW-Landesschnitt liegt bei 667 Betten, der Bundesschnitt bei 595. Und am unteren Ende der Skala landen der Kreis Mettmann (444) oder der Rhein-Sieg-Kreis (209). Kein Wunder, dass AOK-Chef Hartmann deshalb von einer nur „gefühlten Unterversorgung“ spricht.
Hartmann empfiehlt, den Blick nicht an Kirchtürmen und Stadtgrenzen Halt machen zu lassen
Und dies, obwohl seit dem doppelten Rückzug des Klinik-Betreibers Contilia aus Altenessen (Marienhospital) und Stoppenberg (St. Vincenz) mit dem Borbecker Philippusstift nur noch ein Krankenhaus nördlich des Essener Autobahn-„Äquators“ A 40 existiert. Hartmann empfiehlt, den Blick nicht an Kirchtürmen und Stadtgrenzen Halt machen zu lassen: Gerade in den Nachbarstädten des Essener Nordens und Nordwestens gebe es ein sehr gutes Angebot.
Der Hinweis ist auch kleinräumig fraglos hilfreich, denn eine andere Statistik im AOK-Gesundheitsreport offenbart: Gerade im Norden liegt die Zahl der Krankenhaus-Fälle spürbar über der in den südlichen Stadtbezirken. Als Messgrößen dienten dabei Klinik-Diagnosen wie Diabetes, ischämische Herzkrankheiten (vor allem Herzinfarkte), Atemwegserkrankungen sowie zerebrovaskuläre Krankheiten (vor allem Schlaganfälle).
Die meisten Kinder leben im Essener Norden, die meisten Kinderärzte im Süden
Das Problem: Die kleinteiligere Nord-Süd-Statistik wirkt sich nicht auf die Planungen aus, egal ob für Krankenhaus-Betten oder die (fach-)ärztliche Versorgung: In den allermeisten Fällen sind nur die Stadtgrenzen, nicht Stadtteil- oder Stadtbezirks-Grenzen entscheidend, was bei großen Kommunen wie Essen schnell zu Schieflagen führt. Ein Problem, das bereits bis zum ehemaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gedrungen ist, der noch vor ein paar Monaten in einer Diskussionsveranstaltung mit der Erkenntnis aufwartete, dass „die meisten Kinder im Essener Norden und die meisten Kinderärzte im Süden“ zu finden sind. Den Norden gegen den Süden auszuspielen, hält AOK-Chef Hartmann gleichwohl für keine gute Idee. Er begreift das erzwungene Aus zweier Kliniken als „Chance für ein modernes Gesundheits-Management“, denn unter Fachleuten gilt es als ausgemacht, dass viel zu viele Fälle in den Kliniken landen, die dort eigentlich nicht landen müssten.
So registriert Deutschland im Jahresschnitt 239 Krankenhaus-Fälle je 1000 Einwohner, das AOK-Versorgungsgebiet Rheinland/Hamburg kommt auf 252, Essen liegt deutlich darüber bei 279. In Köln, das nur zum Vergleich, kamen 2019 gerade mal 221 Fälle zusammen, in Hamburg gar nur 204. Und noch niedriger liegen die Werte jenseits der Landesgrenzen – in Frankreich (162), der Schweiz (156) oder Schweden (134) etwa.
Nahezu jeder dritte Patient, der in einer Klinik landet, müsste dort nicht sein
Zahlen, denen man in Essen und anderswo deutlich näherkommen könnte, glaubt AOK-Regionaldirektor Hartmann: Nahezu jeder dritte Patient, der in einer Klinik landet, müsste dort nicht sein, würde die fachärztliche ambulante Versorgung kontinuierlich und strukturiert ablaufen. Bei Herzpatienten etwa, Menschen mit Diabetes mellitus, COPD oder Bronchial-Asthma. „Und das ohne ein höheres Risiko für die Patienten“, sagt Hartmann.
Auch dies habe letztlich wohl am Bestand der Krankenhäuser im Norden gesägt: Die Überlastung mit Lappalien, die im Vergütungssystem nicht sonderlich gut bezahlt werden, während eine echte Spezialisierung unterblieb: „Nur große Minimalversorger sein zu wollen, das war ein systemischer Fehler.“
Heute widmet sich die Branche der Frage, wie man Patienten durch den komplizierten Gesundheitsbetrieb an die richtige Adresse lotsen kann. „Gesundheits-Kiosk“ heißt das Stichwort, das durch seine ungeschickte Platzierung prompt in Verruf kam – so, als wollte man geschlossene Kliniken durch ein paar Gesundheits-Klümpkes ersetzen. „Dabei ist die Idee goldrichtig“, sagt AOK-Chef Hartmann. Aber das wolle von den Kritikern wohl niemand hören.