Essen. Gut zwei Jahre könnte es dauern, bis die neue Stadtteilklinik in Stoppenberg steht. Darum sucht die Stadt einen Interims-Standort zum Einstieg.
Sieben auf einen Streich zu erledigen – das klappt wohl nur im Märchen vom „tapferen Schneiderlein“ so aus dem Handgelenk. Für jene sieben Projekte, mit denen die Stadt Essen die Gesundheitsversorgung vor allem im Norden auf eine neue Grundlage stellen will, braucht es einen längeren Atem. Das gilt vor allem für die neue Stadtteilklinik, die auf dem Grundstück des alten St. Vincenz-Krankenhauses in Stoppenberg geplant ist. Deshalb wird für die ersten Bausteine jetzt ein Interims-Standort gesucht.
Erste Bausteine könnten hier ihren Anfang nehmen, doch wer gehofft hatte, dass da am Ende doch irgendwie wieder ein Krankenhaus klassischer Prägung entsteht, ein Komplex mit breiter Vorfahrt, jeder Menge piepsenden Apparaten und reichlich Betten für den Fall der Fälle, den muss Michaela Lemm enttäuschen. Die Geschäftsführerin der auf Gesundheitsthemen spezialisierten Beratungsfirma hcb, die mit ihrem Team über Monate den Bedarf im Norden analysierte, sie empfiehlt nicht, ein Haus zu bauen, je größer desto besser, sondern – zu puzzlen.
Ein Puzzle, das auf Bedürfnisse der Patienten im Norden abgestimmt wird
Das jedenfalls zeigt das zentrale Schaubild, das sie für ihre Präsentation hat zeichnen lassen, ein Haus, bei dem die einzelnen Teile perfekt ineinander greifen: „Integriertes sektorenübergreifendes Gesundheitszentrum“ nennt sich das auf Fachchinesisch, wo Facharztpraxen und ein modernes Diagnosezentrum, eine Anlaufstelle für Notfälle und Angebote zur Kurzzeitpflege unter einem Dach vereint sind.
Sieben Projekte für die Gesundheit
Aus dem 2020 vorgelegten Basisgesundheitsbericht für Essen soll ein Fachplan Gesundheit erwachsen – zunächst mit dem Schwerpunkt auf die Stadtbezirke V und VI.
Die Analyse der Gesundheitsversorgung im Essener Norden soll in das Konzept für ein integriertes sektorenübergreifendes Gesundheitszentrum (Stadtteilklinik) münden.
Als Lotsen im mitunter undurchsichtigen Gesundheitsangebot sollen zwei Gesundheitskioske in den Stadtbezirken V und VI die Arbeit aufnehmen.
Die Stadt will eine Post-Corona-Strategie erarbeiten, um die Kinder- und Jugendgesundheit im Norden zu verbessern.
Gemeinsam mit Partnern soll ein virtuelles Kindergesundheitszentrum aufgebaut werden,
Um die ambulante Notfallversorgung zu sichern, soll neben der Notfallpraxis am Philippusstift in Borbeck auch an der Stadtteilklinik in Stoppenberg eine weitere Notfallpraxis entstehen.
Mit einem vielsprachigen Informationsangebot in Flyern, auf Plakaten und im Internet soll die Kommunikation in Sachen Gesundheit verbessert werden.
Dazu eine Apotheke und eine Reha-Einrichtung, ein Sanitätsfachhaus und ambulante OP-Säle, Therapeuten, Selbsthilfegruppen und eine telemedizinische Unterstützung dank modernster Technik. Klingt alles nach Wunschkonzert, ist es aber nicht: Eine Hebammen-Praxis etwa gilt als „elementar“. Doch „eine klassische stationäre Geburtenstation“, so Lemm, „sehen wir da nicht“.
Die ärgsten Lücken, glaubt sie mit Blick auf die Analyse ihre Teams, liegen woanders. Angestimmt auf die Patientenschar im Norden brauche es etwa einige Fachärzte: Onkologen, Urologen, Orthopäden, Augenärzte und Hautärzte sind in den Stadtbezirken V und VI bisher unterdurchschnittlich vertreten, und weil in diesem Teil der Stadt die Zahl der ambulanten und stationären Notfälle über dem Essener Durchschnitt liegt, wünscht man sich den kurzen Weg zu einer Anlaufstelle, die „den ersten Blick“ auf ein Gesundheits-Problem sicherstellt.
Ein Diagnosezentrum, das auf die Schnelle klärt: Ist es wirklich was Ernstes?
Eine Ebene also, die klärt: Ist es wirklich was Ernstes? Muss da jemand wirklich in den Krankenhaus-Apparat aufgenommen werden, oder klappt die Versorgung auch zuhause, wo sich viele eh wohler fühlen, wenn die ärztliche Versorgung sichergestellt ist? „Semi-Notfälle“ nennen sie das intern, es ist dies eine der Versorgungslücken, die man bei hcb ausgemacht hat, und wo nun eine Versorgungsbrücke geschlagen werden soll – wohl wissend, dass manche gute Idee für die ideale Gesundheitsversorgung nicht unbedingt mit dem bestehenden Vergütungssystem zusammenpasst.
Aber ohne Geld keine Gesundheitsversorgung: Umso mehr freuen sich alle Beteiligten über das Signal, das sie von den Kostenträgern empfangen haben. Die sind wie auch die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein, offenbar bereit, Neuland zu betreten und ein Konzept finanziell zu unterstützen, das für Essens Gesundheitsdezernent Peter Renzel beispielgebend ist: „Wir schlagen ein völlig neues Kapitel auf, vieles von dem, was da geplant ist, gibt es noch nicht – schon gar nicht so verzahnt.“
Keine Kannibalisierung, keine Konzentration, die andernorts neue Lücken reißt
Auch deshalb hoffen die Beteiligten darauf, dass der Bund das Projekt mit Geldern aus dem Innovationsfonds fördert. Ob das Vorhaben in die engere Wahl kommt, entscheidet sich dem Vernehmen nach noch in dieser Woche. Bei alledem geht es auch darum, keine maximale Konzentration zu organisieren, die wiederum andernorts Lücken reißt: „Wir wollen keine Kannibalisierung“ in der ärztlichen Versorgung.
Davon abgesehen braucht es Investoren, Kooperations-Partner und Betreiber der Stadtteil-Klinik. Die Signale seien durchaus vielversprechend, heißt es dieser Tage, vertiefte Gespräche sollen folgen. „Wir suchen eine Essener Lösung.“ Und wer immer da am Ende den Zuschlag erhält, kann auf die Unterstützung der Stadt zählen: Oberbürgermeister Thomas Kufen kündigt jedenfalls ausdrücklich an, dass die Stadt „eine gestaltende Rolle einnehmen“ will: „Wir sind bereit, auch Verantwortung zu tragen.“ So prüft die Stadt, ob sie selbst oder ein städtisches Tochterunternehmen als (Mit-)Gesellschafter einsteigt.
Stadt geht auf die Suche nach einem Interims-Standort für die ersten Monate
Und weil all dies seine Zeit braucht, weil detailliertere Pläne wohl erst bis März 2022 vorliegen, das alte St. Vincenz-Krankenhaus erst gekauft (und wohl weitestgehend abgerissen) werden muss, geht die Stadt auch auf die Suche nach einem Ort, wo die Stadtteilklinik von morgen schon heute einen provisorischen Start hinlegen kann. Mit ein paar Dutzend Betten, wo ein in Notfallmedizin ausgebildeter Allgemeinmediziner mit einem Pflegeteam das erste Puzzleteil setzt und auch ambulante Operationen möglich sind.
Er glaube an das Projekt, sagt Oberbürgermeister Thomas Kufen, der aus dem plötzlichen Aus für zwei Contilia-Kliniken das Beste herausschlagen will. Dass man zurück zu alten Zeiten könnte, ist nicht nur für ihn ein Märchen.