Essen. Henning Christoph hat die ersten türkischen „Gastarbeiter“ in Essen jahrelang mit der Kamera begleitet. „Mustafas Traum“ ist die bewegende Bilanz

Er war nicht gekommen, um zu bleiben. Mustafa Aydin träumte davon, ein Sägewerk in der Türkei zu kaufen. Zum Arbeiten und Geldverdienen war er 1962 nach Deutschland gekommen. Am Ende kehrte Mustafa wie so viele Landsleute nicht als gemachter Mann in die Türkei zurück, sondern blieb bis zu seinem Tod 1997 in Deutschland. Sein großer Traum schrumpfte zu einem Miniaturmodel samt dazu passendem Legohaus, das er in einer Hütte im Hinterhof seiner Wohnung in Altendorf hütete.

Den Traum vom Sägewerk hat Mustafas Aydin nur als Miniaturmodell verwirklichen können. Das Bild entstand 1978 in Altendorf. 
Den Traum vom Sägewerk hat Mustafas Aydin nur als Miniaturmodell verwirklichen können. Das Bild entstand 1978 in Altendorf.  © Ruhr Museum | Henning Christoph

Der Essener Ethnologe und Fotograf Henning Christoph war Mitte der 1970er Jahre einer der wenigen, der nicht nur in die Hütte, sondern in die Lebenswelt der Aydins eintreten durfte. Fast zwölf Jahre lang begleitete er Mustafa Aydin, seine Familie und die Nachbarsfamilie Sakin durch den Alltag. Reiste, feierte, aß mit den so genannten „Gastarbeitern“ und ihren Familien. Wenn sich am heutigen Samstag (30. Oktober) das deutsch-türkische Anwerbeabkommen zum 60. Mal jährt, sieht man noch einmal mit Faszination auf diese fotografische Langzeit-Dokumentation, die das Essener Ruhr Museum von heute an unter dem Titel „Mustafas Traum“ als Galerie-Ausstellung präsentiert.

„Ich war der Erste, der wirklich in das türkische Leben eingetaucht ist“

Die Bilder erlauben einen intimen, aber auch ebenso umfassenden wie informativen Blick in das Leben und die Kultur der in Deutschland lebenden Türkeistämmigen der ersten und zweiten Generation. Sie zeigen die Menschen bei der Arbeit und beim Einkaufen, auf dem Pilger-Weg nach Mekka und beim ausgelassenen Feiern, beim rituellen Schächten und beim Skatspielen im Stammlokal „Die Grüne Zwiebel“. Sie zeigen „Türken sind unsere Freunde“-Plakate und zerstörte Moscheefenster. Sie zeigen die vielen Facetten der deutsch-türkischen Annäherung. „Ich war der Erste, der wirklich in das türkische Leben eingetaucht ist. Und ich habe gespürt, das ist ein gutes Thema“, sagt Henning Christoph rückblickend.

Zigtausende Bilder hat er in der Zeit von 1977 bis 1989 gemacht. Manche davon sind berühmt geworden, wie das World-Press-prämierte Foto von dem betenden Muslim vor der Industriekulisse. Oder die bewegende Aufnahme von den beschnittenen Jungs, deren Schmerz im Regen der Hundertmarkscheine vergehen soll. Zeitdokumente, die dank der finanziellen Unterstützung der Krupp-Stiftung schon 2012 für die Fotografische Sammlung des Ruhr Museums angekauft werden konnten. Annähernd 15.000 Schwarzweiß-Negative und Kleinbild-Farbdiapositive des riesigen Konvoluts beschäftigen sich mit dem Thema Migration.

Das Bild „Nachbarn zur Zeit des Karneval“ hat Henning Christoph 1983 in Duisburg-Hochfeld gemacht.
Das Bild „Nachbarn zur Zeit des Karneval“ hat Henning Christoph 1983 in Duisburg-Hochfeld gemacht. © Ruhr Museum | Henning Christoph

150 Aufnahmen, vorwiegend Kleinformate, sind nun in der Ausstellung zu sehen. Sie zeigen Zuwanderer, die noch nicht angekommen sind in der neuen Heimat, aber sich doch einrichten in der neuen Welt. Und an den „exotischen“ Bräuchen der Deutschen wie Karneval und Schützenfest Anteil nehmen, wie sie ihre eigenen Feste feiern. Die große Fotostrecke über das Beschneidungsfest der Aydin-Söhne bildet ein Zentrum der Ausstellung. Christoph ist damals fasziniert. „Da eröffnete sich eine Welt für mich. Ich kannte nichts von der Kultur“, bekennt der mittlerweile 77-jährige Fotograf, den man in Essen in den vergangenen Jahren vor allem als Leiter des Rüttenscheider Voodoo-Museums wahrgenommen hat.

Christoph, der damals schon Weitgereiste, der als Kind mit den Eltern aus Grimma in die USA emigriert war und 1967 nach Essen zum Fotostudium bei Otto Steinert zurückgekehrt war, fand das Fremde plötzlich vor der eigenen Haustür. Sein Fotostudio in Frohnhausen ist die Schnittstelle. Die Sakins ziehen im selben Haus ein. Die kleine Tochter ist bald ständiger Gast im Labor, bringt die Nachbarskinder mit. „Immer wenn ein Bild fertig war, klatschten die Kinder“, erinnert sich Christoph.

Der Essener Fotograf Henning Christoph hat mit „Die deutschen Türken“ Ende der 1970er Jahre ein wichtiges Dokument  türkeistämmiger Arbeitsmigration vorgelegt. Ruhr Museum-Direktor Theodor Grütter (li.) präsentiert die gesamte Reportage im Rahmen der Ausstellung.
Der Essener Fotograf Henning Christoph hat mit „Die deutschen Türken“ Ende der 1970er Jahre ein wichtiges Dokument türkeistämmiger Arbeitsmigration vorgelegt. Ruhr Museum-Direktor Theodor Grütter (li.) präsentiert die gesamte Reportage im Rahmen der Ausstellung. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Auch die Verbindung zur Familie Aydin hält bis heute. Einige der Kinder, die heute an verschiedenen Orten in Deutschland leben, wollen zur Ausstellungseröffnung am Samstag anreisen. Bis heute ist da der Stolz, Teil einer besonderen Geschichte zu sein. Das Magazin Geo druckt sie 1979 unter dem Titel „Die deutschen Türken“ auf 13 Seiten ab.

Ausstellung läuft ein Jahr

Die Ausstellung „Mustafas Traum. Fotografien von Henning Christoph zum türkischen Leben in Deutschland 1977-1989“ ist bis zum 30. Oktober 2022 als Galerie-Ausstellung im Ruhr Museum zu sehen. Sie erinnert an das Anwerbeabkommen mit der Türkei von 1961 und schließt direkt an die Ausstellung „Wir sind von hier“ des Istanbuler Fotografen Ergun Çağatay an.Öffnungszeiten: Mo bis So 10 bis 18 Uhr, Einritt 3/erm. 2 Euro. Besucher unter 18 Jahren frei.Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog im Klartext-Verlag erschienen. Das Buch umfasst neben 180 Schwarzweiß- und Farbfotografien auch ein aktuelles Gespräch mit Henning Christoph und die legendäre Geo-Reportage „Die deutschen Türken“(24,95 Euro).

Rund anderthalb Jahre können Henning Christoph und seine Frau Shawn damals für die erste und umfangreichste Fotoreportage, die sich mit türkeistämmigen Arbeitsmigration auseinandersetzt, recherchieren. „Henning Christoph besaß ihr Vertrauen und fotografierte viele private und intime Momente ihres Lebens“, sagt Theodor Grütter, Direktor des Ruhr Museums. Auch in der WAZ-Wochenendbeilage werden Christophs Bilder abgedruckt – und von den Aydins aufbewahrt. In der Galerie-Ausstellung im Ruhr Museum liegt sie als Leihgabe in der Vitrine nun neben frühen Familienbildern.