Essen-Stoppenberg. Wegen einer Bombenentschärfung müssen 11.000 Essener ihr Zuhause vorübergehend verlassen. Bei einigen löst das schreckliche Erinnerungen aus.

Mehr als 11.000 Menschen müssen am Mittwoch ihre Häuser verlassen, weitere 37.000 sind während der Entschärfung dazu aufgerufen, in ihren eigenen vier Wänden zu bleiben. Grund dafür ist der größte Blindgänger, der jemals in Essen freigelegt worden ist. Bauarbeiter der Stadtwerke hatten am Dienstag am Kapitelacker in Stoppenberg eine britische Luftmine aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden.

Drei Einrichtungen in der Essener Grabenstraße evakuiert

Den 73-jährigen Harald – seinen Nachnamen will er nicht sagen – bringt das nicht aus der Ruhe, es versetzt ihn eher in freudige Aufregung. Er wohnt gut 400 Meter entfernt an der Grabenstraße in einem Männerwohnheim der Gesellschaft für Soziale Dienstleistungen (GSE). Dort herrschte am Mittwochmorgen reges Treiben von Einsatzkräften aller Couleur, neben dem Wohnheim musste dort nämlich auch ein Senioren- und ein Behindertenwohnheim evakuiert werden. Einerseits ist das mittlerweile Routine, andererseits bedeutet es eben doch viel Zeit- und Personalaufwand.

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Harald steht vor einem großen Feuerwehrbus, der extra aus Dortmund geordert wurde. „Der ist eigentlich für Großschadenslagen“, erklärt Feuerwehrsprecher Stefan Jänecke, dessen Team geeignete Fahrzeuge aus vielen umliegenden Städten geordert hatte. „Endlich sieht man mal was anderes als die Bude hier“, erklärt Harald freudig, wartet, dass Altenpfleger Hans Jütte ihn auf der Liste abhakt und hievt seinen Rollator mit BVB-Aufkleber in den Bus - „Tschüsschen“. Die nächste Station für ihn und auch viele andere war das leerstehende Marienhospital in Altenessen. „Ideal, weil die Zimmer teilweise noch eingerichtet sind, inklusive Betten“, so Jänecke während im Hintergrund die Sirenen heulen.

Rege Betriebsamkeit in den Betreuungsstellen der Stadt Essen

Es ist der Aufruf für die Anwohner und Anwohnerinnen, ihre Häuser zu verlassen. Aus der geplanten Gartenarbeit wurde somit für Michael Siebrecht nichts, der ebenfalls im inneren Evakuierungskreis wohnt. Zeit für einen Kaffee und die Zeitungslektüre blieb noch, dann packte er seine 89-jährige Mutter ein „die eigentlich gar nicht wollte“ und fuhr zu seiner Schwester nach Gelsenkirchen. „Ein Buch nehme ich mit“, sonst nichts, erklärt der 60-Jährige. Beim besten Willen könne er sich nicht vorstellen, dass die Bombe tatsächlich explodiert und sein Hab und Gut komplett vernichtet. „Da habe ich schon eher Sorge, dass jemand in der Zeit mein Haus ausraubt.“

Die Gustav-Heinemann-Gesamtschule diente als Betreuungsstelle der Stadt Essen während der Evakuierung von 11.000 Menschen. Grund war ein Blindgängerfund in Stoppenberg.
Die Gustav-Heinemann-Gesamtschule diente als Betreuungsstelle der Stadt Essen während der Evakuierung von 11.000 Menschen. Grund war ein Blindgängerfund in Stoppenberg. © Iris Müller

„Die meisten kommen bei Freunden oder Verwandten unter“, weiß Feuerwehrsprecher Mike Filzen. Aber eben nicht alle. Und so herrscht bereits am Vormittag rege Betriebsamkeit in den Betreuungsstellen. Eine davon ist die gerade fertiggestellte Gustav-Heinemann-Gesamtschule, dessen Team die Kinder vor ein paar Tagen in die Herbstferien verabschiedet hat. Es riecht noch nach Neubau, Schüler und Schülerinnen haben an den Wänden noch keine Edding-Sprüche hinterlassen und die Kaugummis unter den Tischen im Klassenzimmer lassen sich noch an einer Hand abzählen.

Blindgänger weckt Erinnerungen an den Hochbunker in Essen-Stoppenberg

An einem dieser Tische sitzt Ingrid Bökenkröger mit einem komischen Gefühl im Bauch. Die 81-Jährige erinnert sich noch daran, als sie ein kleines Mädchen war. Damals herrschte Krieg in Deutschland. „Als ich heute das Haus verlassen habe, habe ich mich ein bisschen so gefühlt wie damals, als wir hier in Stoppenberg in den Hochbunker gelaufen sind.“ Von dem Fenster des Hauses, in dem sie noch heute wohnt, konnte man ein kleines Licht an der Zeche Ernestine sehen. Das war das Zeichen dafür loszulaufen: „Manchmal, wenn wir danach zurückkamen, waren im Haus keine Fenster und keine Türen mehr.

An diesem Morgen ist sie nicht direkt losgelaufen, sondern hat erstmal beim Bürgertelefon der Stadt angerufen und sich erkundigt, wo es denn hingehen soll. „Dann habe ich meine Tabletten, Wasser und drei Schokoriegel eingepackt“, erzählt Bökenkröger, die froh ist eine Anlaufstelle zu haben. Ihr Buch hat sie vergessen, doch auch dafür ist in der Gesamtschule gesorgt: Die Schonnebecker Stadtteilbibliothek ist mit in dem Gebäude untergebracht und alle dürfen an diesem Tag dort Medien ausleihen, um sich die Zeit zu vertreiben.