Essen. Im Fall der 3 Kinder, die aus einer Essener Wohnung befreit wurden, wirft der Deutsche Kinderverein die Frage auf: Warum sah niemand Warnsignale?

Im Fall der drei Kleinkinder, die am 2. Juni von Feuerwehr und Polizei aus einer Wohnung in Schonnebeck befreit wurden, kritisiert der in Essen ansässige Deutsche Kinderverein die Reaktion des hiesigen Jugendamtes. Amtsleiter Carsten Bluhm hatte erklärt, alle Beteiligten stünden unter Schock: Es habe zuvor keine Hinweise auf eine solche Tat gegeben. „Das ist eine reflexartige Abwehr, die wir immer wieder erleben“, kritisiert der Geschäftsführer des Kindervereins, Rainer Rettinger. Er halte es für wenig wahrscheinlich, dass es keinerlei Hinweise gab. Das Geschehen und mögliche Versäumnisse von Betreuern und Jugendamt müssten nun gründlich untersucht werden – und zwar von „unabhängigen Instanzen“.

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Entdeckt wurden die Geschwister am besagten Junitag, weil aufmerksame Nachbarn den Dreijährigen allein auf dem Balkon sahen und die Feuerwehr riefen. In der Wohnung fanden die Einsatzkräfte ein fünfjähriges Mädchen, das in einem Zimmer eingesperrt war, und einen Zweijährigen, fixiert auf einem Kinderstuhl, der wiederum an die Heizung gebunden war. Das Jugendamt geht nach der bisherigen Rekonstruktion der Ereignisse davon aus, dass die Kinder nach höchstens einer Stunde befreit wurden.

Ausnahmesituation oder Mangel an Liebe?

„Für ein Kind ist eine solche Stunde sehr lang“, sagt Rettinger. „Es weiß ja nicht, ob seine Eltern je wieder kommen. Noch dazu waren die Geschwister voneinander getrennt, allein ihrem Schicksal überlassen: Sie haben schlimme Ängste durchlebt.“ Die Annahme, dass ihre Eltern in einer Ausnahmesituation gehandelt haben könnten, überzeuge ihn nicht: „Was da geschehen ist, hat mit Überforderung wenig zu tun, vielleicht aber mit einem Mangel an Liebe, Empathie und Vorausschau.“

In diesem Haus in Schonnebeck entdeckten Nachbarn einen Dreijährigen, der auf dem Balkon ausgesperrt war. Die alarmierten Einsatzkräfte fanden in Wohnung zwei weitere eingesperrte Kinder.
In diesem Haus in Schonnebeck entdeckten Nachbarn einen Dreijährigen, der auf dem Balkon ausgesperrt war. Die alarmierten Einsatzkräfte fanden in Wohnung zwei weitere eingesperrte Kinder. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Der Kinderschützer glaubt auch nicht, dass die beiden Jungen und das Mädchen erstmals solcher Grausamkeit ausgesetzt waren. „Darauf deuten auch die Erfahrungen mit ähnlichen Fällen.“ Das Jugendamt hatte dagegen dargelegt, dass sich Logopäden, Ergotherapeuten und Familiencoach um die Kinder gekümmert hatten und die Mutter regelmäßig eine Erziehungsberatung aufgesucht habe. „Wer aber hatte einen Blick auf den Vater?“, fragt Rettinger. Und: „Waren die Beteiligten im Kinderschutz ausgebildet? Hat die Logopädin bei ihren Besuchen in der Familie mehr als ein Zimmer gesehen?“ Es gebe sogar Familienhelferinnen, die immer nur in ein Zimmer gehen: „Und nebenan verhungert ein Kind.“

Eine Art Stockholm-Syndrom lässt Helfer blind werden gegenüber den Eltern

Rettinger hat keinen pädagogischen oder medizinischen Hintergrund, er ist Lobbyist für Kinderrechte und benennt als solcher Widersprüche, die er bemerkt. So sage das Jugendamt die Kinder seien 45 Stunden pro Woche in der Kita oder bei der Tagesmutter gewesen. Nachbarn aber berichteten, die Kinder seien kaum aus der Wohnung gekommen und hätten häufiger von innen gegen die Scheiben geschlagen. Angesichts dessen müsse man die vielen Begleiter der Familie fragen: „Ist wirklich niemandem etwas aufgefallen?“

Das ist die Frage, die immer gestellt wird, wenn es zu spät ist: Wenn Kinder missbraucht, verprügelt, misshandelt wurden oder verhungert sind – oft gleichsam unter den Augen der Jugendämter. Dr. Ralf Kownatzki, der in Essen lebt, lange Jahre als Kinderarzt in Duisburg praktiziert hat und für einen robusteren Kinderschutz kämpft, formuliert das so: „Es gibt manchmal so eine Art Stockholm-Syndrom zwischen Familienhelferin und Eltern.“ Eine unheilvolle Identifizierung mit den Müttern und Vätern zulasten der Kinder. Auch weil in der Jugendhilfe das Mantra gilt, dass es den Kindern schon gut gehe, wenn man den Eltern helfe. „Das ist nicht grundsätzlich falsch“, sagt der Arzt. „Aber es gibt Eltern, denen man nicht helfen kann. Da muss man irgendwann den Schnitt machen und dafür sorgen, dass sie das Kind nicht zurückbekommen.“

Nach Fall Luis: Gutachter sehen Handlungsbedarf

Für Luis sollte es keine Hilfe mehr geben: An einem Sommertag 2019 verdurstete der Zweijährige in dem Dachzimmer in Altenessen, in das ihn sein Vater eingesperrt hatte. Wenige Tage später hätten tägliche Besuche des Jugendamtes in der Familie beginnen sollen. Das Amt erklärte zwar, niemand habe die Tat des Mannes voraussehen können. Es verpflichtete sich aber im Herbst 2019, seine Abläufe durch externe Gutachter überprüfen zu lassen.

Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) am Deutschen Jugendhilfeinstitut mit dem Projekt „Lernen aus problematischen Kinderschutzfällen“ rekonstruierte Essener Kinderschutzfälle und sieht an drei Stellen Handlungsbedarf: In der Kommunikation mit den Eltern, in der Beteiligung der Kinder und bei der Gefährdungseinschätzung.

Was die Eltern betreffe, setze man in der Sozialarbeit in der Regel auf Freiwilligkeit. Weil man damit aber an Grenzen gerate, müsse man die Mitarbeiter so qualifizieren, dass sie die Familien notfalls auch in „Zwangskontexten“ beraten und begleiten können. Die Kinder müssten wiederum stärker gehört werden. Darum biete man Mitarbeitern Fortbildungen zur „Gesprächsführung mit (jungen) Kindern“ an.

Schließlich sagen die Gutachter, die Gefährdungseinschätzung muss verbessert werden. Es müsse etwa Fachstandards geben, um die „prognostischen Aspekte von Gefährdungshinweisen stärker herausarbeiten“. Sprich: Besser vorherzusagen, dass eine Gefahr für ein Kind besteht – und diese abzuwenden.

Die Analyse alter Fälle durch das NZFH habe gezeigt, dass das Jugendamt eine „externe Begleitung“ brauche. So sei nun eine Kooperation mit der Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf geplant.

Kownatzki betont, dass es unter den Familienhelfern, die meist bei freien oder kirchlichen Trägern angestellt sind, fachlich exzellente, engagierte Kräfte gebe. „Jedoch auch solche, für die das Geld nicht gut angelegt ist.“ Die Jugendämter, die mit wenig Mitteln und Personal auskommen müssten, gliederten wichtige Leistungen aus: „Das ist wie die Subunternehmer auf dem Bau.“ Es müsse verlässlichere Standards für die Arbeit in der Jugendhilfe geben, fordert auch Rainer Rettinger. Kinderschutz werde im Studium der Sozialen Arbeit im besten Fall gestreift: „Das muss Pflichtfach werden.“

Warum waren die Kinder verhaltensauffällig?

Dann könne man die Zeichen in einer Familie wie der in Schonnebeck vielleicht besser lesen: Und hätte sich gefragt, ob die Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsdefizite der Kinder nicht erst durch die Erziehung der Eltern, womöglich durch Misshandlung, verursacht worden seien. Es gehe ihm nicht darum, das Jugendamt anzuklagen, sagt Rettinger. Aber er wolle dafür sensibilisieren, dass sich die Akteure der Jugendhilfe besser untereinander austauschen, genauer hinschauen.

Er erinnert an den zweijährigen Luis, der 2019 eingeschlossen in einem völlig überhitzten Dachzimmer in Altenessen verdurstete, in einer Familie, die dem Jugendamt bekannt war. „Die Tat des Vaters konnte vom Jugendamt der Stadt Essen nicht vorhergesehen werden“, erklärte damals Jugenddezernent Muchtar Al Ghusain. Umso dringender stelle sich die Frage, findet Rainer Rettinger: „Was sehen die Mitarbeiter – und was sehen sie nicht?“