Essen. Nach der Gelsenkirchener Hass-Demo hat sich für Essener Juden etwas verändert. Ein Gespräch mit deren Gemeinde-Vorsitzenden über Antisemitismus.

Ein Monat ist vergangenen, seit ein wütender Mob bei einer unangemeldeten Demo durch Gelsenkirchen zog und antisemitische Parolen brüllte. Die überwiegend jungen Muslime wollten an jenem Abend zur dortigen Synagoge ziehen, als Anlass galt ihnen die jüngste Eskalation des Nahostkonflikts. Ein Video, das der Zentralrat der Juden auf Twitter veröffentlichte, sorgte bundesweit für Empörung. Auch für die Jüdische Kultus-Gemeinde Essen an der Sedanstraße hatte der Vorfall in der Nachbarstadt Auswirkungen auf das tägliche Leben. Johannes Pusch hat mit deren Vorsitzenden, Schalwa Chemsuraschwili, in der Neuen Synagoge gesprochen.

Frage: Sie haben Ihren Rabbiner nach den Vorfällen in Gelsenkirchen gebeten, die Kippa nicht in der Öffentlichkeit zu tragen. So weit ist es gekommen?

Schalwa Chemsuraschwili: Ich wollte ihn vor Angriffen und Beleidigungen schützen. ‘Du Jude’ ist ein Schimpfwort. Meine Nichte und mein Neffe sind mittlerweile erwachsen, aber schon sie sind mit sechs und sieben Jahren Mobbing-Opfer in der Schule gewesen.

Beide sind hier in Essen zur Schule gegangen?

Genau, auf eine ganz normale Schule. Meine Nichte hat das Mobbing fertiggemacht, mein Neffe konnte sich immerhin wehren. Die Lehrer waren hilflos. Ich möchte nicht, dass meine eigenen Kinder auch solche Erfahrungen machen müssen. Mein Sohn wird nach dem Sommer eingeschult. Ich habe ihn auf der Jüdischen Schule in Düsseldorf angemeldet. Mein Sohn soll sich nicht verstecken und sagen müssen: ‘Ich bin kein Jude’ – er muss stolz darauf sein dürfen. Ich kenne viele, die ihre Kinder zur Schule nach Düsseldorf schicken.

Schalwa Chemsuraschwili: „Ich möchte nicht, dass meine eigenen Kinder auch solche Erfahrungen machen müssen.“
Schalwa Chemsuraschwili: „Ich möchte nicht, dass meine eigenen Kinder auch solche Erfahrungen machen müssen.“ © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Nach der Hass-Demonstration in Gelsenkirchen: Was hat sich für Ihre Gemeinde konkret verändert?

Normalerweise ist die Polizei während der Arbeitszeiten unserer Synagoge im Einsatz – also von 8 bis 18 Uhr. Seit Gelsenkirchen gibt es 24 Stunden Polizeipräsenz. An dem Tag haben mich die Behörden informiert und es ist viel Polizei zum Schutz unserer Synagoge gekommen, das Gebäude wurde umkreist, das hat mich beruhigt. Meine Leute fragen mich oft: ‘Wann wird hier keine Polizei mehr stehen?’ Meine Antwort: Ich weiß es nicht.

Im November letzten Jahres ist ein Fenster der Neue Synagoge von einem Mann mit Betonsteinen beworfen worden. Vor Gericht wurde ein antisemitischer Hintergrund ausgeschlossen, der Täter (38) muss nun auf unbestimmt Zeit in die geschlossene Psychiatrie. Verstehen Sie das Urteil?

Für mich persönlich ist der Steinwurf eine antisemitische Tat gewesen. Ich kann nicht verstehen, wie die Richter Antisemitismus ausschließen konnten.

Hat sich der Rabbiner eigentlich an Ihren Rat, die Kippa nicht mehr zu tragen, gehalten?

Nein, hat er nicht. Und er hat gute Erfahrungen gemacht. Er erzählte mir von zwei schönen Erlebnissen. Als er am Baldeneysee war, kam eine ältere Frau auf ihn zu. Sie sagte: ‘Sind Sie Jude?’ Als er ‘ja’ sagte, lächelte sie und sagte zu ihm: ‘Ich finde gut, dass Sie das zeigen’. An der Lidl-Kasse in Steele gab es ein ähnliches Gespräch. Einfache Leute haben uns zuletzt gut zugesprochen. Dieser Krieg [Israel-Gaza-Konflikt im Mai, Anm. d. Red.] war eine positive Überraschung.

Eine positive Überraschung? Wie kann ein Krieg eine positive Überraschung sein?

Ich meine nicht den Krieg an sich, jeder Tote ist einer zu viel – ich unterscheide auch nicht zwischen Israelis und Palästinensern. Was ich damit meine, ist, dass es durch viel Berichterstattung über den Krieg und die antisemitischen Demos einen Fokus für das Thema gab. Wir haben dann viel Zuspruch erlebt, viele einfache Leute haben unserer Gemeinde Briefe geschrieben.

Erfahren Sie solche Solidarität nicht oft?

Wenn ein Signal von oben kommt, wie zuletzt, schon. Es war auch gut, dass es in Essen das Zeichen des interreligiösen Dialogs gab.

Sie meinen das Treffen am 20. Mai in der Neuen Synagoge, bei dem unterschiedliche Religionsvertreter und OB Thomas Kufen bekräftigten, sich schützend vor die jüdische Gemeinde zu stellen?

Ja. Ein Signal von oben funktioniert aber auch andersherum. Der türkische Präsident Erdogan bezeichnete Israel als „Terrorstaat“. Wenn ein Staatschef so etwas sagt, hat das Gewicht und setzt sich in den Köpfen fest. Jüngere Migranten können nichts dafür, sie bekommen das vorgelebt. Was mir aber wichtig ist: Israel-Kritik ist erlaubt, aber Flaggen verbrennen geht nicht. Vor Synagogen gegen Israel zu demonstrieren geht auch nicht, das kann man von mir aus vor der Botschaft in Berlin machen, Synagogen sind aber Gotteshäuser.

Was bedeutet Israel für Sie persönlich?

Der Staat Israel ist ein Ort der, wenn etwas passiert, mich als Juden aufnehmen würde. Das macht ihn besonders.

Schalwa Chemsuraschwili im Gemeindesaal der jüdischen Gemeinde in Essen. Er sagt: „Der Staat Israel ist ein Ort der, wenn etwas passiert, mich als Juden aufnehmen würde.“
Schalwa Chemsuraschwili im Gemeindesaal der jüdischen Gemeinde in Essen. Er sagt: „Der Staat Israel ist ein Ort der, wenn etwas passiert, mich als Juden aufnehmen würde.“ © FUNKE Foto Services | André Hirtz

In Kriminalstatistiken heißt es, dass mehr als 90 Prozent der antisemitischen Straftaten in Deutschland einen rechtsextremen Hintergrund haben. Kann das stimmen?

Ich kann nicht glauben, dass 95 Prozent rechtsextreme Taten und nur 5 Prozent andere sein sollen.

Taten die nicht aufgeklärt werden können, wurden bisher automatisch als rechtsextrem eingestuft. Ganz neu ist diese Nachricht: Künftig soll untergliedert werden zwischen Tatverdächtigen aus der rechtsextremen, linksextremen oder islamistischen Szene. Wie beurteilen Sie das?

Das finde ich gut, denn es bringt nichts, Dinge nicht so anzusprechen wie sie in Wirklichkeit sind. Vor allem linker Antisemitismus wurde bisher verharmlost. Verschweigen ist schlecht und führt zu keiner Lösung – wie man an dem Beispiel meiner Nichte und meines Neffen sieht. Der Lehrer damals war hilflos und hat nichts gemacht.

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Mein Neffe lebt mit seiner Familie in Deutschland, möchte aber nach nach Israel ziehen, wenn er eine Familie gründet. Meine Nichte lebt bereits in Israel und bekommt dort bald ein Kind.

Das hört sich nach Kapitulation an.

Generell muss der Weg sein, mehr miteinander ins Gespräch zu kommen.

Wie kann das funktionieren?

Ein Beispiel: Ich habe persönlich einen sehr guten Draht zum Vorsitzenden der marokkanischen Gemeinde in Essen. Er sagte mir in etwa: ‘Was haben wir falsch gemacht, dass sich unsere Kinder bekriegen – obwohl Muslime und Juden seit Jahrhunderten gut in Marokko zusammenleben?’ Daraus entstand vor fünf Jahren die Idee, einmal im Monat einen Kurs anzubieten: Geschichte der Juden und Araber. Man muss schon den Kindern beibringen, dass unsere Religionen viel mehr gemeinsam haben, als uns trennt. Wichtig ist auch, dass in Schulen mehr vermittelt wird. Man muss andere respektieren. Wir sind keine Mit-Bürger, wir sind Bürger.

>>> Zur Person:

  • Schalwa Chemsuraschwili ist Vorsitzender der Jüdischen Kultus-Gemeinde Essen. Seit 2002 lebt er in Deutschland, ursprünglich stammt aus Georgien. Vorsitzender der Essener Gemeinde ist der 43-Jährige seit 2020.
  • Vor einem Monat, nach der antisemitischen Demonstration in Gelsenkirchen, sagte Chemsuraschwili gegenüber unserer Redaktion: „Ich hätte nicht gedacht, dass es in Deutschland so etwas geben könnte, aber unsere Leute müssen wohl damit leben.

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