Essen. Das Schauspiel Essen setzte in der Corona-Pandemie auf VR-Brillen. Kann die neue Technik in Zukunft mehr junge Menschen fürs Theater begeistern?
Theater im digitalen Raum: Als nach eigenen Angaben erstes Theater in NRW setzt das Schauspielhaus Essen auf Vorstellungen mit Virtual Reality (VR)-Brillen. Könnte die Idee, die aus der Not der Corona-Pandemie heraus entstanden ist, zukünftig ein Weg sein, um mehr junge Menschen fürs Theater zu begeistern?
50 VR-Brillen wurden mit Unterstützung der Brost-Stiftung extra für Schulen angeschafft. Die Schülerinnen und Schüler der B.M.V.-Schule in Holsterhausen sind die Ersten, die sich auf das „Experiment“, wie Theaterpädagoge Marguerite Windblut es nennt, einließen. Sie sahen die auf die 360-Grad-Perspektive abgestimmte Inszenierung von „Der Reichsbürger“.
Schüler testen neues VR-Format des Schauspiel Essen
Laurenz sitzt entspannt auf seinem Stuhl, hat die Arme vor dem Bauch verschränkt. Plötzlich dreht er ruckartig seinen Kopf nach hinten. In dieser ungemütlichen Position verharrt er für einige Minuten, bis er sein Gesicht auf einmal schnell zur anderen Seite dreht.
Seine rund 20 Mitschülerinnen und Mitschüler tun es dem 16-Jährigen gleich. Ein Schüler zeigt der Wand vor ihm ein Peace-Zeichen, eine Schülerin schüttelt heftig mit dem Kopf. Sie alle sind dank VR-Brillen und Kopfhörern abgetaucht in eine andere Welt.
Essener Schüler werden im virtuellen Raum mit einem Reichsbürger konfrontiert
„Es hat sich so echt angefühlt. Das war wirklich eine spannende Erfahrung“, sagt Laurenz, als er die Brille absetzt. Die 16-jährige Tharmika stimmt ihm zu: „Es war sehr realistisch. Ich habe mich als Zuschauerin direkt angesprochen gefühlt. Ich hatte oft das Bedürfnis, Wilhelm zu antworten.“
Wilhelm, das ist der Reichsbürger, um den sich das Stück dreht. Er wettert von seinem Bunker aus gegen den Staat und das System, leugnet die Rechtmäßigkeit der Bundesrepublik Deutschland und verbreitet rassistische Verschwörungserzählungen.
VR-Format als neue Erfahrung für Theaterbegeisterte
Gespielt wird Wilhelm von Stefan Diekmann. 2019 hatte die Inszenierung von Thomas Krupa in der kleinen Box des Schauspiel Essen Premiere. Das Stück mit einer VR-Brille zu sehen, sei allerdings eine ganz andere Erfahrung, so Intendant Christian Tombeil:
„Zwischen dem Zuschauer und Wilhelm sind normalerweise mindestens fünf Meter Abstand. Aber wenn man die VR-Brille trägt, ist es, als würde er einem direkt gegenübersitzen. Dann hält er dir auf einmal einen Personalausweis direkt vor die Nase oder geht mit seinem Handy ganz nah an dein Gesicht.“
Schülerin Maia: „Ich habe angefangen zu zittern und zu weinen.“
Als „furchteinflößend“ hat Laurenz diese Szenen empfunden. „Es hat langsam angefangen und ist dann ins Extreme gegangen. Für mich war es vielleicht ein bisschen zu extrem. Das muss ich erstmal verarbeiten“, sagt seine Mitschülerin Tanja.
Maia beschreibt die Erfahrung ebenfalls als „sehr beeindruckend“: „Ich habe am Anfang angefangen zu zittern und zu weinen, weil es so ungewohnt war. Ich musste mich die ganze Zeit am Tisch festhalten, damit ich weiß, dass ich noch da bin.“
Essener Intendant Tombeil: „Überforderung ist hier Programm.“
Laut Theaterpädagoge Marguerite Windblut, der das Projekt gemeinsam mit seiner Kollegin Aline Bosselmann begleitet, komme es beim Theater gerade auf diese „Unwohlseins-Momente“ an: „Theater will keine Komfortzone sein. Die Intensität dieser Erfahrung ist durch die Brille noch mal eine ganz andere.“
Darin sehe auch Tombeil den großen Vorteil des neuen Formats „Überforderung ist hier Programm.“ Normalerweise könne man sich als Zuschauer in der Masse des Publikums verstecken. „Jetzt kannst man sich dem aber nicht mehr entziehen. Es sei denn, man setzt die Brille ab.“
Virtueller Theaterabend von Zuhause aus
Wer das neue VR-Format selbst testen möchte, kann die Vorstellung „Der Reichsbürger“ im Webshop der Theater und Philharmonie Essen buchen. Die Brille wird samt Kopfhörern nach Hause geliefert und im Anschluss wieder abgeholt.Die Kosten belaufen sich im Stadtraum von Essen auf 25 Euro. Mehr Infos, Vorstellungstermine und Buchungen unter www.theater-essen.de.
VR-Format als „neue Kunstform“ des Theaters
Auch Schülerin Nadine habe Wilhelm als „sehr aggressiv, laut und wütend“ erlebt: „Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas gegen seine Aussagen sagen muss.“ Die 17-Jährige findet, dass das virtuelle Stück eine „total interessante Erfahrung“ war, die sie einem normalen Theaterbesuch vorziehe.
Intendant Tombeil plädiert dafür, die neue Technik nicht als Konkurrenz zum traditionellen Bühnenstück zu betrachten, sondern darin vielmehr eine „eigene Kunstform“ zu sehen – die dem Theater in Zukunft viele neue Möglichkeiten eröffne.