Essen. Fünf Choreografen, vier Stücke, eine Leidenschaft für Tanz. Wie das Essener Aalto-Ballett mit dem Abend „P4ssions“ in andere Welten eintaucht.

Die Essener Compagnie ist aus der Puste, sie schwebt schwarz gekleidet in die Kantine des Aalto-Theaters: Christiane Marchant probt „A Million Kisses to my Skin“. Die Assistentin des gefragten Choreografen David Dawson, die weltweit seine Werke einstudiert, wundert das nicht. „Es ist eine Herausforderung für die Tänzer nach der langen Pause und jetzt mit Maske zu arbeiten“, sagt die strenge Trainerin, die alle mit Liebe zum Detail an ihre Grenzen bringt. Das energiegeladene Stück eröffnet den zeitgenössischen Ballettabend, dem Werke von Jiří Kylián, Edward Clug sowie Ballettintendant Ben Van Cauwenbergh und Armen Hakobyan folgen.

Dawson-Stück eröffnet den Abend

Helfen dem Aalto-Ballett für „P4ssions“ auf die Sprünge: Dawson- Assistentin Christiane Marchant und Ballettintendant  Ben Van Cauwenbergh. Foto: André Hirtz / FUNKE Foto Services
Helfen dem Aalto-Ballett für „P4ssions“ auf die Sprünge: Dawson- Assistentin Christiane Marchant und Ballettintendant Ben Van Cauwenbergh. Foto: André Hirtz / FUNKE Foto Services © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Wie viele Choreografen schickt auch der Brite David Dawson („Giselle“) seine Mitarbeiterin vor, um eines seiner persönlichsten Werke auf die Bühne zu bringen. „A Million Kisses to my Skin“ kreierte er, inspiriert von Bachs Musik, zu seinem Abschied als Tänzer für das Dutch National Ballet. „Das ist ein sehr modernes Stück auf der Basis des klassischen Balletts“, erklärt Christiane Marchant.

„Es geht um Momente von Leidenschaft und Freiheit. Es geht um die Anstrengung als Tänzer, die sie zu einem Ergebnis bringt, das glücklich macht. Manchmal entsteht dieses Gefühl, manchmal nicht.“ Sie selbst kennt es gut aus ihrer aktiven Zeit bei Béjart und Neumeier und manchmal auch vom Einstudieren von Dawsons akribisch angelegten Bewegungsmustern.

Existenzielles Solo von Jiří Kylián

„Christiane hat einen tollen Einfluss auf die Compagnie“, betont Ben Van Cauwenbergh. Ebenso wie der präzise und psychologisch arbeitende Spanier Urtzi Aranburu. Tänzer Denis Untila hat mit ihm das Solo „Double You“ der Ballettlegende Jiří Kylián („Archipel“) einstudiert. „Ohne große Sprünge sagt Kylián sehr viel.“ Zum Teil mit geschlossenen Augen erzählt er, wie ein Tänzer mit dem Abschied von der Bühne sowie einem Verlust hadert und sich zu Bachs Partita Nr. 4 hoffnungsvoll in sein Schicksal ergibt. „Man kommt wieder in eine andere Welt“, meint Van Cauwenbergh.

Auch bei Edward Clugs „Mutual Comfort“ ist das so. Der Rumäne, der bereits bei „Lichtblicke“ in Essen beteiligt war und seit elf Jahren das Ballett im slowenischen Maribor leitet, ist bekannt für seine minimalistischen Arbeiten. „In gebrochenen Bewegungen“ versuchen sich zwei Paare, „gegenseitigen Trost“ zu spenden. Doch sie scheitern trotz Kontaktaufnahme und sich verschränkender Körper auf dem Klangteppich des Komponisten Milko Lazar. Per Zoom war der zielorientierte Clug bei den Proben zugeschaltet. Ein Novum für das Essener Ballett.

Klassisches trifft modernes Vokabular

Um möglichst verschiedene Farben des Tanzes zu zeigen, fügt der Ballettchef seine eigene hinzu mit „Percussion“. Es war ursprünglich ein reines Männerstück von ihm, das nun renoviert und erweitert um die weibliche Komponente als Machtspiel der Geschlechter zurückkehrt. Denn auch Ben Van Cauwenbergh sieht nicht ein, „warum Frauen heute noch weniger verdienen als Männer“. Und so vereint sich Van Cauwenberghs klassisches Tanzvokabular mit dem modernen des ehemaligen Tänzers, Ballettmeisters und Choreografen Armen Hakobyan. Entstanden ist ein kraftvoll-dynamisches Stück zu den japanischen Trommeln von Joji Hirota & Taiko Drummers.

In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass es zeitgenössische Abende trotz bekannter Tanzschöpfer beim Publikum schwer haben. Dennoch plädiert der Intendant dafür: „Ich finde es notwendig. Die Tänzer müssen mit anderen Stilen konfrontiert werden, um sich zu entwickeln, und die Zuschauer auch. Wir können doch nicht nur ,Queen’ zeigen“, sagt er im Hinblick auf den Dauerbrenner. „Wir müssen einen guten Mittelweg finden. Die Leute, die drin waren, sind jedenfalls glücklich.“