Essen. Die Stadt Essen prüft alle 2000 Duldungsfälle: Nach erster Sichtung haben 750 die Chance auf einen Aufenthaltstitel. Woran die anderen scheitern.

Ende 2019 hat die Stadt angekündigt, alle knapp 2000 Essener Duldungsfälle zu prüfen und den Betroffenen nach Möglichkeit eine Bleibeperspektive zu bieten. Vor allem die Geduldeten mit kurdisch-libanesischen Wurzeln leben oft schon seit Jahrzehnten in Essen, gelten aber formal noch immer als ausreisepflichtig. Nach einer ersten Prüfung dürfen zumindest 750 von ihnen auf einen Aufenthaltsstatus hoffen.

Integration soll mit einem Aufenthaltstitel belohnt werden

„Bei ihnen ist die Tür offen, da sehen wir Potenzial“, sagt der zuständige Ordnungsdezernent Christian Kromberg. Sprich: Sie gelten dem ersten Augenschein nach als integriert oder integrationswillig. Nun müsse man genauer schauen, „ob die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel erfüllt sind“. In jedem Einzelfall prüfe man, ob etwa eine besondere berufliche Integration oder ein herausgehobenes soziales Engagement vorliegen. Etliche Betroffene müssten weitere Unterlagen einreichen. Im besten Fall könne man dann nachhaltige Integrationsbemühungen „durch die Erteilung eines Aufenthaltstitels honorieren“.

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Erst 15 Geduldete sind schon einen großen Schritt weiter: Ihre Integrationsbemühungen gelten als so nachhaltig, dass das Ausländeramt schon konkret prüft, welche Bleibeperspektive man ihnen aufgrund der gesetzlichen Regelungen bieten kann.

Kinder „erben“ den Duldungsstatus der Eltern

Die übersichtliche Erfolgsquote nach anderthalb Jahren hänge auch mit der Pandemie zusammen, sagt Kromberg. Die Ausländerbehörde sei von März bis Juni 2020 für den Publikumsverkehr geschlossen gewesen und weiterhin nur eingeschränkt arbeitsfähig. Er sei froh, dass dennoch eine erste grobe Prüfung aller 2000 Duldungsfälle gelungen sei. Das Verfahren sei auch deswegen aufwendig, weil die Gruppe der Geduldeten äußerst heterogen sei: „Da sind viele dabei, die erst kürzlich hergekommen und in die Duldung gerutscht sind.“

„1250 der Duldungsfälle sehen wir uns nicht weiter an, weil wir sie erstmal für chancenlos halten“, sagt Essens Ordnungsdezernent Christian Kromberg.
„1250 der Duldungsfälle sehen wir uns nicht weiter an, weil wir sie erstmal für chancenlos halten“, sagt Essens Ordnungsdezernent Christian Kromberg. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Flüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl kritisieren indes, dass vor allem Menschen von Kettenduldungen betroffen sind, die schon lange in Essen leben. Häufig werde der Duldungsstatus von der Elterngeneration weitervererbt: Selbst in Essen geborene Kinder bekommen kein sicheres Bleiberecht, weil auch ihre Identität als ungeklärt gilt.

Betroffene können häufig ihre Identität nicht nachweisen

Mit dem 2016 gestarteten „Essener Modell“ hat die Stadt daher kurdisch-libanesischen Heranwachsenden von 14 bis 27 Jahren ein Angebot gemacht: Wer zur Schule gehe, eine Ausbildung oder Arbeit habe und nicht straffällig sei, dem wolle man einen Aufenthaltsstatus ermöglichen. Allerdings verlangte man auch ihnen ab, sich um eine Passbeschaffung im Ursprungsland zu bemühen. Von 460 Kandidaten nahmen am Ende gut 50 am Programm teil. Teils weil sie nicht alle Bedingungen erfüllen konnten, teils aus mangelndem Interesse oder Misstrauen.

Duldung wird oft über Jahre und Jahrzehnte verlängert

Wer sich als Ausländer nicht rechtmäßig in Deutschland aufhält, kann trotzdem geduldet werden, wenn er aus tatsächlichen, rechtlichen, dringenden humanitären oder persönlichen Gründen nicht ausreisen kann: zum Beispiel wegen der Sicherheitslage in seinem Heimatland oder weil er krankheitsbedingt nicht reisefähig ist, sich in einer Ausbildung befindet oder keine Ausweispapiere besitzt. Die Duldung gilt nicht als rechtmäßiger Aufenthaltsstatus, sondern als „vorübergehende Aussetzung der Abschiebung“.

Eine Duldung kann für wenige Tage bis zu sechs Monaten ausgestellt werden, dann muss sie von der Ausländerbehörde verlängert werden. Geschieht das nicht, muss der Betreffende ausreisen. Oft werden Duldungen über Jahre und Jahrzehnte verlängert, der Duldungsstatus von Eltern auf Kinder „vererbt“. Die Betroffenen haben eingeschränkte Ausbildungs-, Arbeits- und Reisemöglichkeiten.

Auch diesmal wird ein großer Teil der Geduldeten nicht vom Angebot der Stadt profitieren: „1250 der Duldungsfälle sehen wir uns nicht weiter an, weil wir sie erstmal für chancenlos halten“, erklärt Kromberg. Man erwarte von den Betroffenen schließlich auch, dass sie straffrei bleiben und sich um die Integration bemühen – dann könnten sie auch einen Aufenthaltsstatus erhalten.

Experte kritisiert: Essen nutzt Ermessensspielräume nicht

Ausgerechnet der ehemalige Leiter des Kommunalen Integrationsmanagements, Helmuth Schweitzer, bezweifelt das. „Die Stadt signalisiert zwar gegenüber den Betroffenen einerseits eine Öffnung, fährt aber andererseits eine harte Linie“, sagt Schweitzer, der seit 2017 in Ruhestand ist und heute Vorsitzender des Vereins „Laissez-passer“, der sich für Geduldete einsetzt. „Laissez passer“ hieß die formlose Ausreisegenehmigung, mit der im libanesischen Bürgerkrieg zahllose kurdischstämmige Flüchtlinge aus dem Libanon nach Deutschland kamen; korrekte Ausweispapiere fehlten ihnen meist.

„Das Essener Ausländeramt nutzt längst nicht alle Ermessensspielräume aus“, sagt der ehemalige Leiter des Kommunalen Integrationsmanagements, Helmuth Schweitzer.
„Das Essener Ausländeramt nutzt längst nicht alle Ermessensspielräume aus“, sagt der ehemalige Leiter des Kommunalen Integrationsmanagements, Helmuth Schweitzer. © WAZ FotoPool | Katrin Bölstler

Es gebe Wege, diesen Menschen einen Aufenthalt zu bieten, sagt Schweitzer: „Das Essener Ausländeramt nutzt längst nicht alle Ermessensspielräume aus.“ Stattdessen seien auch gut ausgebildete, arbeitswillige Geduldete häufig gezwungen, von Sozialleistungen zu leben. „Die Stadt kostet das Millionensummen – und die Menschen kommen nicht aus dem Duldungs-Kreislauf.“

Dezernent: Wir prüfen jeden Einzelfall, geben den Menschen eine Chance

Dezernent Kromberg sieht das anders: Die Ausländerbehörde wende schon immer alle rechtlichen Möglichkeiten, „um geduldete Personen zu legalisieren“, konsequent an. Und es liege ihm persönlich am Herzen, Menschen aus der Duldung zu holen. Darum habe man für die aktuelle Prüfung neue Stellen geschaffen: „Diese Leute packen jetzt jeden Einzelfall an, kümmern sich darum und schauen, welche Chancen man dem einzelnen geben kann.“