Essen. Im Impfzentrum wird nun im Eiltempo immunisiert. Tausende verpasste Termine und Absagen sind verschmerzbar, doch ein neues Problem tut sich auf.
Rumtrödeln ist nicht: Wer sich dieser Tage im Impfzentrum an der Messe den Pieks abholt, wird nahezu im Schweinsgalopp durch die beiden Messehallen gelotst. Kein Vergleich zu den stundenlangen Wartezeiten rund um die Ostertage, was prompt Gerüchte ins Kraut schießen lässt: Sind massenhafte Absagen von Impflingen Schuld? Und liegt jetzt der begehrte Impfstoff „auf Halde“, weil sich auf die Schnelle keine neuen Patienten finden lassen?
Weder noch, beteuert der Leiter des Essener Impfzentrums, Dr. Stefan Steinmetz, der inzwischen einen Gutteil seines Arbeitsalltags mit Dementis aller Art bestreitet. Ja, schon wahr, „teilweise drehen wir auch Däumchen“, räumt er ein. Doch dafür gebe es zwei naheliegende Gründe.
Bis zum Dienstag gab es 145.400 Erstimpfungen in Essen
Laut Kassenärztlicher Vereinigung Nordrhein wurden bis Dienstag, 27. April 2021, 15:00 Uhr exakt 189.286 Impfungen verabreicht, darunter 145.400 Erst- und 43.886 Zweit-Impfungen.Von den Erstimpfungen erfolgten 122.894 im Impfzentrum und 22.506 in den Arztpraxen. Durch den verspäteten Start der Impfung durch niedergelassene Ärzte gab es dort erst 167 Zweitimpfungen.
Um alle Kapazitäten vollends auszulasten, bräuchte es schlicht mehr Impfstoff
Der erste: Um mehr Erstimpfungen möglich zu machen, wurde der Abstand von der Erst- zur Zweitimpfung kürzlich verlängert – beim Impfstoff von AstraZeneca von neun auf zwölf und beim Vakzin von BioNTech von drei auf sechs Wochen. Diese „Impflücke“ hat sich erledigt, sobald ab der nächsten oder übernächsten Woche wieder täglich 300 bis 500 aufgeschobene Zweitimpfungen in den Plan aufgenommen werden.
Der zweite Grund für die ausgesprochen entspannte Lage im Impfzentrum: Nach dem Oster-Chaos mit teils mehrstündigen Wartezeiten baute die Stadt das Impfzentrum mit weiteren Impfstraßen deutlich aus. Doch parallel verbesserte sie auch andere Abläufe, verlagerte den unvermeidlichen Schreibkram aus den Impfkabinen in eine Art Backoffice und machte den Prozess dadurch weitaus schneller als gedacht. Folge: Um die jetzt verfügbaren Impf-Kapazitäten allesamt auszulasten, müsste es schon spürbar mehr Impfstoff geben.
7931 kamen kurzerhand nicht zum Impftermin, 8.529 sagten immerhin ab
Doch genau daran hapert es, wie Steinmetz seufzt. Kein Wunder, dass er bislang kein Problem in abgesagten oder ohne Absage einfach nicht wahrgenommenen Impfterminen sieht. Dabei ist deren Zahl beachtlich: Wie die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVNo) am Mittwoch auf Anfrage bestätigte, sind von den 118.134 vereinbarten Impfterminen im Essener Impfzentrum 7.931 nicht wahrgenommen worden. Diese „No Show“-Rate nervt, weil sie neuen Organisations-Aufwand beschert, ist aber kein Essener Phänomen, sondern bei allen Impfzentren zu beobachten.
Hinzu kommen laut KVNo immerhin 8.529 von den Impflingen stornierte Termine, was oft daran liegen dürfte, dass mittlerweile auch die Hausärzte ein Impfangebot machen und der vorher vereinbarte Termin in der Messehalle nicht mehr nötig ist. Über andere Gründe könne man nur spekulieren, aber darauf mag sich die Kassenärztliche Vereinigung nicht einlassen, appelliert stattdessen, den Verantwortlichen vor Ort die Arbeit nicht ohne Not zu erschweren und rechtzeitig online oder telefonisch abzusagen.
So viel Unzufriedenheit hat der Impfzentrums-Leiter „in 35 Praxis-Jahren nicht erlebt“
Wenn Ärger gibt’s auch so schon genug, wie Dr. Stefan Steinmetz aus eigener Erfahrung berichten kann: „Von der Euphorie ging es nahtlos zur Dauerkritik“, in der der Ärztliche Leiter des Impfzentrums wahlweise beschimpft, zu „Beweiszwecken“ ungefragt fotografiert und für so ziemlich alles verantwortlich gemacht wird, was nicht auf Anhieb funktioniert: Selbst für die fehlende Impfstoff-Auswahl und nicht vorliegenden Studien würden er und die Mitarbeiter angegangen: „Jeder meint, seinen Ärger an uns auslassen zu müssen, das zerrt an den Nerven.“ Er jedenfalls habe „in 35 Praxis-Jahren nicht so viel Unzufriedenheit abbekommen, wie ich sie jetzt im Impfzentrum erlebe“.
Hinzu kommt eine Politik, die auf Landes- oder Bundesebene den Impf-Alltag noch zusätzlich erschwert – mit falschen Versprechungen, wann denn nun die große Impfstoff-Welle übers Land schwappt, und mit immer neuen Erlassen die das Hin und Her beim Umgang mit dem umstrittenen Vakzin von AstraZeneca auf die Sp(r)itze treiben: War es zunächst die Devise, keine Zweitimpfungen mehr mit AstraZeneca durchzuführen, soll dies nun doch auf Wunsch der Impflinge möglich sein – nach individueller ärztlicher Beratung und nur ausnahmsweise, versteht sich. „Eine blödsinnige Formulierung“, sagt Steinmetz und fürchtet, das könnte den Impfprozess wieder spürbar verlangsamen. Erst recht, wenn die Warnung der Apothekerin eintrifft: dass es nämlich keine neuen AstraZeneca-Zuteilungen mehr gibt: Auf das Chaos warte ich schon.“
Über 145.000 Menschen wurden im Impfzentrum und den Arztpraxen erstgeimpft
Dabei läuft die Impfkampagne nach seinem Dafürhalten in Essen ansonsten wie geschmiert, was sich an den Zahlen ablesen lässt, die die Kassenärztliche Vereinigung mittlerweile in einer täglichen Übersicht ausgibt. Danach haben in Essen mittlerweile 145.400 Personen eine Erstimpfung erhalten – 122.894 im Impfzentrum, weitere 22.506 in den Arztpraxen.
Von einer Konkurrenz zwischen Impfzentrum und niedergelassenen Ärzten will Steinmetz denn auch nichts wissen: „Es gibt ein gutes Miteinander.“ Auch dafür läuft er täglich seine zehn Kilometer durchs Impfzentrum, das verrät ihm sein Schrittzähler. Nicht schlecht mit 71.