Essen. Weil Corona-Impfstoff Mangelware ist, gibt es schon mal „unmoralische Angebote“, um sich vorzumogeln. Vergeblich, betont Dr. Stefan Steinmetz.

Seit er sowas wie Essens oberster Impf-Chef geworden ist, kann Dr. Stefan Steinmetz sich vor lauter Freunden kaum noch retten. Viele neue sind darunter und alte noch viel mehr. Die Anrufe kommen täglich, und an der Strippe weisen sie sich aus als jene, die doch immer schon seine Lieblings-Patienten waren, beste Kumpels, alte Kameraden: wie jener, der nach langer langer Funkstille jüngst an das gemeinsame Examen erinnerte. Das ist, naja, nun auch schon wieder 45 Jahre her, aber was tut man nicht alles, um sich an der langen Schlange derer, die auf eine Corona-Impfung warten, vorbeizumogeln. Geht das? fragen sie Steinmetz dann, und der sagt freundlich: „Nein."

Er sagt dies ohne Groll, eher schon ein wenig mitleidig, weil er sieht, zu welchen „unmoralischen Angeboten“ mancher fähig ist, seit der Impfstoff gegen das heimtückische Coronavirus mangels Masse zur Bückware wurde. Diesen sehnlichen Wunsch, sich vor Covid-19 zu schützen oder vielleicht auch nur die

Wieviel Impfstoff am Ende einer Impf-Aktion übrig bleibt und dann anderweitig verimpft werden kann, entscheidet sich bei der Frage, wie präzise die Spritzen aufgezogen werden. Bei besonders ruhigen Händen sind aus einem Injektionsfläschchen von BioNTech bis zu sieben „Portionen“ zu entnehmen.
Wieviel Impfstoff am Ende einer Impf-Aktion übrig bleibt und dann anderweitig verimpft werden kann, entscheidet sich bei der Frage, wie präzise die Spritzen aufgezogen werden. Bei besonders ruhigen Händen sind aus einem Injektionsfläschchen von BioNTech bis zu sieben „Portionen“ zu entnehmen. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Angst davor loszuwerden - Steinmetz versteht das nur zu gut, leibt aber hart. Und empört sich dennoch genauso über jene die in diesen Tagen über vermeintliche Vordrängler raunen, sie gar anonym anschwärzen: „Dämlich", sei das, „der typisch deutsche Neidkomplex".

Und auch ein bisschen wahr?

Glück für jene, die bei organisierten Impfaktionen zur rechten Zeit am rechten Ort sind

Sagen wir es so: Von den gut 15.000 stadtweit geimpften Essenern gibt es einen ziemlich kleinen Anteil, der ist weder über 80 Jahre alt noch besonders verletztlich ("vulnerabel") oder im täglichen Einsatz bei Corona-Kranken übermäßig gefährdet, nein, er war nur bei den organisierten Impfaktionen zur rechten Zeit am rechten Ort. Und bekam dann eine jener Impfdosen verpasst, die man ansonsten hätte wegwerfen müssen. Denn der Impfstoff etwa von BioNTech muss - einmal auf eine Spritze aufgezogen - binnen einer halben Stunde verimpft werden.

Davon profitierte an einem Essener Krankenhaus nicht nur der Pflegeleiter, sondern auch seine Ehefrau, was ein anonymer Schreiber prompt mehreren Stellen brühwarm mitteilte und als echten Skandal brandmarkte: Da würden, hieß es, „betriebsfremde Personen sowie ggf. Personal, was schlichtweg noch nicht an der Reihe ist, geimpft".

Je nach Händchen für die Vorbereitung bleibt Impfstoff übrig, den niemand wegwerfen will

Tatsächlich aber kamen keine Betriebsfremden in den Genuss der Impfe, weil die kritisierte Ehefrau selbst Krankenschwester ist. Und die „Trickserei", sie entpuppte sich im Nachhinein als einer jener Fälle, bei denen am Ende einer Impfaktion umständehalber noch Impfstoff übrig ist.

Wer wann geimpft wird, steht in der „CoronaImpfV"

Alle hübsch der Reihe nach: Wer wann dran ist in der Impfwarteschlange, bestimmt die „Verordnung zum Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2“, kurz Coronavirus-Impfverordnung oder abgekürzt CoronaImpfV.

Vorgezogen werden danach bestimmte Alters- und Berufsgruppen sowie Menschen mit größerer Verletzlichkeit, also mit schweren Krankheiten oder Behinderungen. Gestaffelt werden sie nach „höchster“, „hoher“ und „erhöhter“ Priorität und ihrer Bedeutung für das Gemeinwesen – gleich, ob als Verkäufer im Lebensmitteleinzelhandel, Polizist oder Richter, Lehrer oder Pfleger.

Gleichwohl lässt die Verordnung auch Interpretations-Spielräume, wenn sie etwa von „besonders relevanten Positionen“ spricht. Über Ausnahmen oder Strafbewehrungen bei Verstößen sagt die Verordnung nichts aus.

Denn das begehrte Vakzin wird nicht etwa in Einmal-Spritzen angeliefert, sondern in Injektionsfläschchen, sogenannten „Vials", deren Inhalt noch mit einer Kochsalz-Lösung vermengt („rekonstituiert“) wird. Ursprünglich sollten aus einem Fläschchen laut EU-Vorschrift nur fünf Spritzen bestückt werden, in der Praxis zeigte sich, dass durchgehend sechs Dosen möglich waren, manchmal sogar sieben, wenn „eine Dame mit Zauberhändchen“ zugange war, wie Dr. Stefan Steinmetz es augenzwinkernd formuliert.

Auch ein Hausmeister rückte in der Impfschlange unversehens ganz nach vorne

Zudem gibt es schon mal verunreinigte oder verschüttete Dosen, angemeldete Impflinge kommen nicht, erkranken, sagen kurzfristig ab, ja, versterben gar im Heim, will sagen: Passgenau kommt es in den seltensten Fällen hin. Was aber tun mit dem überschüssigen Impfstoff? Steinmetz kennt Essener Kollegen, die trauten sich anfangs nicht, der EU-Regelung zuwiderzuhandeln und schütteten Impfstoff für zig Immunisierungen in den Müll.

Für ihn ein Unding, ein Frevel, „ethisch nicht vertretbar“ angesichts des vorhandenen Mangels. Wenn also am Ende einer Impfaktion noch Impfstoff übrig war, den man nicht mehr zurück in den Kühlschrank packen konnte, suchte man sich schnell greifbare Freiwillige ohne lange Anfahrt. Das waren mal die Mitarbeiter in den Alten- und Pflegeheimen, mal Rettungssanitäter, mal Polizisten oder zuletzt die Helfer im Impfzentrum. Auch ein Hausmeister rückte so in der Impfschlange unversehens ganz nach vorne.

Dass mancher „dem eigenen Glück etwas nachgeholfen hat - das will ich nicht ausschließen"

Dass der eine oder die andere da „dem eigenen Glück etwas nachgeholfen hat - das will ich nicht ausschließen", sagt Steinmetz achselzuckend. Aber er appelliert, sich darüber nicht zu grämen, nicht übermäßig missgünstig zu sein. Vordrängeln aus Prinzip sei jedenfalls nicht möglich, dafür sorge er, und politische Extrawürste würden auch nicht gebraten.

Das Objekt der Begierde, hier beäugt von Oberbürgermeister Thomas Kufen (links) und dem Leiter des Impfzentrums, Dr. Stefan Steinmetz. Überlegungen, ihn zur Impfwerbung in der Warteschlange vorzuziehen, erteilte der OB eine Absage.
Das Objekt der Begierde, hier beäugt von Oberbürgermeister Thomas Kufen (links) und dem Leiter des Impfzentrums, Dr. Stefan Steinmetz. Überlegungen, ihn zur Impfwerbung in der Warteschlange vorzuziehen, erteilte der OB eine Absage. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Das war immerhin mal in der Diskussion. Als man sich anfangs Sorgen machte, der von manchem misstrauisch beäugte mRNA-Impfstoff von BioNTech könnte in der Bevölkerung auf zu viel Skepsis und selbst beim Pflegepersonal auf eine mangelnde Impfbereitschaft stoßen, da wurde eine vorzeitige Impfung unter anderem des Oberbürgermeisters als eine Art „Werbeaktion“ diskutiert. Motto: Er macht's. Trauen Sie sich doch auch.

Oberbürgermeister Thomas Kufen und sein "gutes Gespür für den möglichen Shitstorm"

Doch zwischen dem Impf-Vorbild und dem Impf-Vordrängler ist der Grat eben schmal. Steinmetz nennt es „sein gutes Gespür für den möglichen Shitstorm", dass Thomas Kufen sich damals ausdrücklich verkniff, was der Amtskollege in Halle und so mancher Landrat ohne weiteres akzeptierte - und was der Vorstandsvorsitzende des FC Bayern München Karl-Heinz Rummenigge dieser Tage für seine Bundesliga-Stars forderte. Früher dran zu sein, als der Bund es festgelegt hat.

Nein, betont man in Essen allerorten, alles schön der Reihe nach. Nach Paragraf 4 der Coronavirus-Impfverordnung ist das Stadtoberhaupt als „Person in besonders relevanter Position der Stadtverwaltung“ nur in der Rubrik „erhöhter Priorität“ an der Reihe - zusammen mit Lehrern und Asthma-Kranken, der Rewe-Kassiererin von nebenan und allen Über-60-Jährigen. Es hilft auch nichts, Dr. Steinmetz anzurufen, der nicht weit von Kufen entfernt wohnt.

Er muss warten, bis er dran ist. Wie alle.