Essen. Der Essener Kinderschutzbund fürchtet eine steigende Dunkelziffer bei der Gewalt gegen Kleinkinder. Warum der Lockdown für sie so gefährlich ist.

Der Essener Kinderschutzbund ist in großer Sorge, dass während der Corona-Pandemie gerade die jüngsten und verletzlichsten Kinder aus dem Blickfeld geraten und oft unbemerkt Opfer von Misshandlung und Verwahrlosung werden. Darauf deute auch die erheblich gesunkene Zahl von Kleinkindern, die in den Notaufnahmen landeten. „Wir befürchten eine steigende Dunkelziffer an Kindeswohlgefährdungen bei Säuglingen und Kleinkindern“, sagt der Vorstandsvorsitzende des Essener Kinderschutzbundes, Prof. Dr. Ulrich Spie.

„Viele Kinderärzte bekommen die Kinder gar nicht mehr zu Gesicht“

Im ersten Quartal dieses Jahres seien nur 17 Prozent der in den Notaufnahmen des Kinderschutzbundes untergebrachten Kinder unter sechs Jahre alt gewesen; im Vorjahr lag ihr Anteil noch bei 40 Prozent. Elf Prozent waren sogar noch im Säuglings- oder Kleinkindalter. Für diese Gruppe gebe es in Zeiten des Lockdown offenbar keine Frühwarnsysteme mehr. „Sie sind nicht in der Kita, kommen nicht zu den Vorsorgeuntersuchungen. Viele Kinderärzte berichten uns, dass sie die Kinder gar nicht zu Gesicht bekommen“, sagt Spie.

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Der Kinderschützer betont, dass das Jugendamt seine Hilfen in gewohnten Umfang aufrecht erhalte und viele Familien begleite. In Kitas und beim Kinderarzt würden aber häufig erste Anzeichen für Vernachlässigung und häusliche Gewalt entdeckt; das falle nun weg. Der Kinderschutzbund fürchtet, dass Kindeswohlgefährdungen aktuell nicht mehr kontrollierbar seien. Das Leid vieler Kinder bleibe entweder unentdeckt oder werde erst spät bemerkt, sagt Spie. „Zum Beispiel wenn die Opfer schwerer Gewalt in der Kinderschutzambulanz im Elisabeth-Krankenhaus landen.“

Sobald Kitas und Schulen wieder öffnen, werden mehr Kindeswohlgefährdungen bekannt

Bereits im ersten Lockdown 2020 hatte sich in den Kindernotaufnahmen die Zahl der Anfragen auffallend verringert. „In dem Zeitraum als Kitas und Schulen geschlossen waren, hatten wir lediglich eine einzige Anfrage nach Unterbringung für ein Kind “, sagt Lena Bartoleit, Fachbereichsleiterin Stationäre Hilfen beim Kinderschutzbund. Sobald Kitas und Schulen Anfang Mai 2020 wieder öffneten, stieg die Zahl der Anfragen jedoch sprunghaft an: Bis zum zweiten Lockdown im November waren es 81. Ebenso viele Kinder habe man im gesamten vergangenen Jahr ablehnen müssen, weil es an Plätzen fehlte.

In Sorge: Heike Pöppinghaus leitet den Fachbereich Kinderschutz, Ulrich Spie ist Vorsitzender des Essener Kinderschutzbundes.
In Sorge: Heike Pöppinghaus leitet den Fachbereich Kinderschutz, Ulrich Spie ist Vorsitzender des Essener Kinderschutzbundes. © FUNKE Foto Services | Knut Vahlensieck

Der Bedarf sei also da, die Not vieler Kinder unbestritten, betont Spie. „Es ist auffällig, dass sich Schulkinder vermehrt selbst bei ihren Lehrern melden.“ Offenbar sei der Leidensdruck nach dem Lockdown bei vielen von ihnen hoch. Das liege auch daran, dass viele Familien nach einem von Homeschooling und Ausgangsbeschränkungen geprägten Jahr an ihre Belastungsgrenzen gerieten. „Die Eltern müssen Arbeit und Kinderbetreuung managen oder damit klarkommen, dass sie den Job verloren haben. Die Kinder haben keinen Raum mehr, sich auszutoben. Das zerrt an den Nerven“, sagt Spie.

Familien stehen nach einem Jahr Lockdown unter hohem Druck

Mit Blick auf den „Internationalen Tag der gewaltfreien Erziehung“ am 30. April zeichnet der Vorsitzende des Kinderschutzbundes ein düsteres Bild. Wenn die Kitas nur eine Notbetreuung anbieten könnten, gerieten erneut die Kleinsten aus dem Blick – und ein Entlastungsangebot für die Familien falle weg. „Wir müssen die Kitas unter strengsten Hygiene-Auflagen für die Kinder offenhalten.“ Sonst steige das Risiko für Kindeswohlgefährdungen weiter – mit langfristigen Folgen für die soziale, motorische, gesundheitliche und geistige Entwicklung der Kinder.

Der Kinderschutzbund steuere einer solchen Entwicklung mit Beratungsangeboten für werdende und junge Eltern, Erziehungskursen und Präventionsprojekten entgegen – und erlebe hier auch online eine große Nachfrage. „Im Vorjahr haben wir in unseren Beratungseinrichtungen über 1000 neue Fälle gezählt“, sagt Heike Pöppinghaus, die den Fachbereich Kinderschutz leitet. Erfreulich sei, dass sich viele Eltern selbst vertrauensvoll an den Kinderschutzbund wendeten, betont Pöppinghaus. „Im letzten Jahr wurde besonders häufig eine Überforderung durch eine belastete Familiensituation als Grund genannt.“