Essen-Steele. Wenn Alkohol- oder Drogenkonsum der Eltern und Vernachlässigung Alltag sind, werden Kinder zu kleinen Erwachsenen. Eine Erzieherin berichtet.

Kleine Kinder mit großem Pflichtbewusstsein, Söhne und Töchter in der Elternrolle: In der Regelgruppe des Kinderheims erleben Mädchen und Jungen oft zum ersten Mal Sicherheit und Geborgenheit. Mit Hilfe und Unterstützung von Erzieherinnen wie Verena Schnabel* (39) finden sie zurück ins Leben. Zur Stabilität in einem sicheren Umfeld. Verloren haben sie vielfach das Gefühl, Kind sein zu dürfen. Manche von ihnen haben eine psychische Diagnose - eine Geschichte haben sie alle.

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Zu den ganz seltenen Geschichten zählen die Fälle, in denen ein Mädchen oder ein Junge selbst zum Jugendamt geht, um zu sagen: „Ich kann nicht mehr.“ Dieser Hilfeschrei bleibt die Ausnahme, weil die Kinder ihren Eltern gegenüber loyal bleiben. Die Folge: „Sie akzeptieren, dass auch häusliche Gewalt zur Normalität dazu gehört“, erklärt Verena Schnabel, die seit 20 Jahren bei der Fürstin-Franziska-Christine-Stiftung arbeitet. Im Steeler Kinderheim leitet sie inzwischen seit neun Jahren eine der Regelgruppen mit neun Kindern und Jugendlichen zwischen acht und 15 Jahren.

Anzeichen für ein Vertrauen, das allmählich wächst

In der Regelgruppe des Kinderheims in Essen-Steele erleben Mädchen und Jungen oft zum ersten Mal Sicherheit und Geborgenheit.
In der Regelgruppe des Kinderheims in Essen-Steele erleben Mädchen und Jungen oft zum ersten Mal Sicherheit und Geborgenheit. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Im Alltag lernen sich Kinder und Erzieher gegenseitig kennen. „Mit allen Eigenschaften und Eigenarten“, sagt Verena Schnabel, die mit ihrem Team täglich sieht, wie die Mädchen und Jungen sich entwickeln. „Es ist immer wieder schön, wenn sie eines Tages befreit lachen können.“ Wenn ein Fünfjähriger merkt, wann sie ihn foppt und er diese Ironie begreift, statt zu verstummen und oder gar ängstlich zu reagieren, dann sind das Anzeichen, die ihr zeigen, dass allmählich Vertrauen wächst.

Wenn zu Hause Alkohol- oder Drogenkonsum der Eltern und Vernachlässigung ihren Alltag prägen oder die Mutter an Depressionen leidet, bleibt für die Kinder nichts zum Lachen. „Die psychischen Erkrankungen der Eltern nehmen zu“, sagt die Erzieherin. Sind Erwachsene schwach, glauben die Kinder wiederum, stark sein zu müssen. „Dann werden sie zu kleinen Erwachsenen.“ Erleben sie etwa einen gewalttätigen Vater, fühlen sie sich mitunter verantwortlich für Mutter und Geschwister, wollen sie schützen.

„Das Idealbild bleibt dennoch stets das eigene Zuhause“

Erfahren sie schließlich im Kinderheim selbst Fürsorge und das Gefühl, die Verantwortung loslassen zu können und zu dürfen: „Das Idealbild bleibt dennoch stets das eigene Zuhause“, beschreibt Verena Schnabel diese Vorstellung der Kinder, die viel Leid ertragen, weil sie es nicht anders kennen. Und sie teilen den einen Wunsch: „Egal, was passiert ist, sie wollen nach Hause“, weiß die Erzieherin, die selbst einen Jungen betreut hat, der am Ende mit seiner Mutter nichts mehr zu tun haben wollte. Zuvor hatte er gemeinsam mit der Erzieherin seine Familiengeschichte aufgearbeitet. Die Erfahrungen, die er gemacht hatte, hatten die Bindung zwischen ihnen offenbar endgültig zerstört.

Dennoch überkomme sie manchmal ein Gefühl der Ohnmacht, wenn Kinder nach Hause gehen und sie selbst spürt „das ist zu früh, das kann nicht gut gehen“. Sie denkt dabei an ihre beruflichen Anfänge und ein Mädchen zurück, das ihr im Kopf geblieben ist. Gerade einmal zwölf Jahre alt, zog es mit seiner Schwester zurück nach Hause. Drei Jahre später kam für die Erzieherin der bittere Augenblick, in dem sie aus einer anderen Einrichtung erfuhr: „Die 15-Jährige ist schwanger.“ Zum Glück gibt es auch die gelungenen Übergänge, die diese Erfahrung wieder wettmachen.

Bei allen erschütternden Geschichten überwiegen die schönen Momente

Auch andere Kinderschicksale gehen ihr nah, wenn sie spürt, dass ihre Möglichkeiten begrenzt sind. Dann verbleibt zunächst nur das Angebot, da zu sein und ihnen zu helfen, das Geschehene zu verarbeiten, obwohl es so tief verwurzelt ist. „Diese Mädchen und Jungen haben schlimme Dinge miterlebt, ihnen fällt es schwer, sich auf andere Menschen einzulassen“, erklärt Verena Schnabel. Deswegen können manche Kinder auch nicht in eine Pflegefamilie vermittelt werden.

Es sind Begegnungen in ihrem Beruf, über die sie viel nachdenkt, auch darüber, wie die Biografien dieser Kinder gelingen können. Bei allen traurigen und auch erschütternden Geschichten, sagt sie, „überwiegen die schönen Momente“. Die anderen muss sie aushalten.

*Die Namen aller Erzieher sind geändert, da sie in Zusammenhang mit den erzählten Schicksalen Rückschlüsse auf die Identität der Kinder ermöglichen könnten.