Essen. Das Steeler Heim bietet Kindern ein Zuhause, wenn Eltern das nicht können. Die Unterbringung bietet Fürsorge und oft eine Chance. Zwei Biografien.
„Ich kann nicht mehr“, als Charlie* diesen Satz aussprach, war er gerade einmal elf Jahre alt. Der Junge stand vor einem Mitarbeiter im Jugendamt. An diesem Tag schaffte er den Weg zurück nach Hause nicht mehr, wo er seit Jahren statt Liebe großes Leid erfuhr und die Alkoholsucht der Mutter ertrug. Charlies Geschichte, die den Elfjährigen damals ins Kinderheim nach Steele führte, erzählt heute Leiter Martin Engler: „Denn sie zeigt, dass das Heim eine Chance bietet und keinen Endpunkt bedeutet.“
Mit dieser Hilfe hat Charlie sein junges Leben gestalten können. So wie Leon, der mit neun Jahren in die Kindergruppe an der Steeler Straße eingezogen ist. Ihre beiden Biografien stehen stellvertretend für viele andere im Haus der Fürstin-Franziska-Christine Stiftung – und für einen Neuanfang.
Charlie kam mit seiner Schultasche und dem, was er trug, im Kinderheim an
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Charlie kam am frühen Nachmittag mit seiner Schultasche und dem, was er trug, im Kinderheim an. Bis dahin hatte er daheim wohl nie etwas anderes erlebt, als eine Mutter, die meistens betrunken gewesen ist und ihm weder ein Brot schmieren, noch Zuneigung hat geben können. Die Eltern lebten da schon getrennt, die große Schwester war bereits ausgezogen. Und Charlie – der ging jeden Tag zur Schule, benahm sich gut und funktionierte.
Schließlich entschied das Jugendamt, dem das Alkoholproblem der Mutter bekannt war, diesem Alltag und der Verwahrlosung des Jungen ein Ende zu setzen, als das Kind selbst Alarm schlug. Martin Engler nahm den Anruf entgegen, erfuhr von dem Schicksal, das auch deshalb außergewöhnlich ist, „weil Kinder ihren Eltern gegenüber loyal sind, selbst wenn ihnen ganz Schlimmes widerfährt. Sie geben sich die Schuld, wenn Eltern trinken oder traurig sind.“ Tief berührt hat ihn daher der Hilfeschrei des Elfjährigen.
Nach einer stillen Phase folgte große Verzweiflung
Im Heim blieb Charlie in den ersten Tagen still, reagierte gefasst und beinahe zu abgeklärt für das, was gerade mit und um ihn herum geschah – bis er endlich weinen konnte. Er hat viel geweint und Phasen der Verzweiflung ebenso zugelassen wie die Nähe der Erzieher, die ihn in seiner Entscheidung bestärkten, ihn auffingen und festhielten.
Seine Mutter verarbeitete diesen Schock zunächst auf bewährte Art: Sie schüttete sich zu, wie sie später erzählte. Um dann aber relativ rasch Kleider und Kuscheltiere ins Heim zu bringen, sich von der Unterbringung ihres Kindes zu überzeugen und einzuwilligen: „Du darfst hier so lange bleiben, wie Du möchtest“, hat sie ihrem Sohn auf den Weg mitgegeben. Ihrer führte erst in die Entgiftung und dann in Langzeittherapie.
Großmutter bot dem Enkel Stabilität
Bei Leons (19) Mutter waren Drogen der Grund dafür, dass er nicht zu zu Hause aufwachsen konnte. „In einer Zeit, in der er in der Schule viele Fehlzeiten und schlechte Noten hatte und seine Mutter zusammenbrach, gab ihm die Großmutter Stabilität“, beschreibt seine frühere Erzieherin Bärbel Möllering die Situation. Als seine Oma schwer krank wurde, war Leon neun. „Ich wurde aus der Schule ins Heim gefahren“, erzählt er von dem Tag, an dem er sich plötzlich in der ungewohnten Umgebung mit so vielen fremden Kindern wiederfand. Verloren und unsicher habe er sich gefühlt und überhaupt nicht darüber nachgedacht, bleiben zu müssen.
Der Neunjährige vermisste seine Familie, verstummte in den ersten Monaten beinahe vollständig. Wer ihm auf der Treppe in seiner Gruppe begegnete, hörte kaum mehr als ein „Na“ oder „Hallo“. Als ersten Besuchen der Mutter nur noch Ausreden folgten und die Erzieher sich ernsthaft sorgten, fasste Leon beinahe unerwartet Fuß, fühlte sich nach und nach wohler. „Damals wurde klar, dass hinter dem Verhalten der Mutter Drogen steckten, und wir konnten mit Leon endlich nach vorn blicken“, sagt Bärbel Möllering zu dem Zeitpunkt, als Leon anfing, Wut und Trauer zu verarbeiten. Die Kindergruppe wurde zum neuen Zuhause, Leon ein bei allen beliebter Junge – zumindest bis zur Pubertät.
Pubertät machte dem Jugendlichen und seinem Umfeld das Leben wieder schwer
Dieser Einbruch machte ihm und seinem Umfeld das Leben erneut schwer. Regeln und Grenzen zählten für Leon plötzlich nicht mehr, er blieb nächtelang weg. Vermisstenanzeigen und immer strengere Auflagen („ich musste mich alle 30 Minuten melden“) waren die ersten Folgen, die letzte Konsequenz der Abbruch der Maßnahme.
„Aus heutiger Sicht war der Umzug aus der Kinder- in die Jugendlichengruppe eher nicht richtig“, sagt Bärbel Möllering. Aber was hätten sie mit einem 17-Jährigen machen sollen? Der hatte damals zudem erst den Verlust der Oma und dann den Tod der Mutter zu verkraften. Wie er das bewältigt hat, daran kann er sich nicht mehr recht erinnern.
Fest stand nach einer Übergangszeit in seiner ersten Gruppe, dass Leon in eine städtische Einrichtung wechselt, er verließ das Steeler Kinderheim. Die Verbindung aber blieb. War doch nicht nur seine Erzieherin längst zu der Bezugsperson geworden, die ihm noch heute mit Tipps zur Seite steht, ob zum Nudelkochen oder Berufsperspektiven: „Sein Schicksal lag uns allen sehr am Herzen, wir konnten ihn doch nicht fallen lassen.“ Das haben sie nie.
Ein zufriedener, junger Mann
Leon lebt nun in einer eigenen Wohnung und hat seinen Bundesfreiwilligendienst bei der Fürstin-Franziska-Christine-Stiftung absolviert. Genau an dem Ort und bei den Menschen, die der 19-Jährige seine Familie nennt, hat er jetzt seine Ausbildung begonnen: Leon wird Altenpfleger.
Charlie hat ein Praktikum bei einem Schreiner gemacht, arbeitet heute als Bestatter, so wie er es sich gewünscht hat. Er ist inzwischen mit seiner Freundin zusammengezogen. Das Kinderheim hat Charlie nach etwa zweieinhalb Jahren verlassen. Vorausgegangen waren Besuche der Mutter, Elterngespräche, Erziehungsberatung und manche Krise. Es war ein Auf und Ab, das darin mündete, dass die Mutter trocken und stabil war und bei allen das Gefühl stimmte: Die beiden bekommen das wieder hin – und sie irrten nicht.
Der kleine Junge rettete sich und seiner Mutter das Leben
250 Jahre Fürstin-Franziska-Christine-Stiftung
Die ersten Kinder zogen am 4. Dezember 1769 ins Haus der Fürstin-Franziska-Christine-Stiftung. Entstanden als klassisches Waisenhaus war es durchaus außergewöhnlich, dass der imposante Bau damals gerade einmal mit 30 Plätzen für jeweils 15 Mädchen und Jungen geschaffen worden war. Die Idee des katholischen Hauses: Bildung und Erziehung zu vermitteln, das betraf Religion sowie Schule.
Heute leben bis zu 110 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zwischen zwei und 20 Jahren an der Steeler Straße 642–646 oder in einer der Außenwohngruppen. Elf Gruppen gibt es insgesamt, darunter drei für die Notaufnahme, wenn akute Gefahr droht und die Polizei ein Kind aus der Familie ins Heim bringt.
Immer muss die rechtliche und pädagogische Situation geklärt werden, ob und wann ein Kind in eine Pflegefamilie, Gruppe oder zurück zu den Eltern ziehen kann. Eine Rückkehr erfolgt in der Regel nach zwei bis drei Jahren, einige Kinder wachsen im Heim auf. Dort kümmern sich rund 100 pädagogische Kräfte um sie. Insgesamt gibt es ca. 200 Mitarbeiter und seit 35 Jahren auch ältere Bewohner im Seniorenheim mit 55 Plätzen. Hinzu kommen Tages-, Kurzzeit- und vollstationäre Pflege.
„Charlie ist ein zufriedener, junger Mann Mitte 20“, sagt Martin Engler, der überzeugt ist, dass der kleine Junge nach dem großen Schritt seinen Weg auch deshalb gemacht hat, weil Mutter und Kind sich auf die Situation im Heim eingelassen und das nicht als Strafe betrachtet haben. Ein Ergebnis ist die tiefe Verbindung zwischen Mutter und Sohn.
Martin Engler trifft die beiden mindestens einmal im Jahr, denn sie kommen stets zum Weihnachtsgottesdienst ins Kinderheim. Bei einer ganz anderen Gelegenheit hat die Mutter sich und Charlie längst eingestanden, dass sie dem damals Elfjährigen den Wendepunkt zu verdanken hat: „Du hast mein Leben gerettet.“ Und seines auch.
*Name geändert