Essen. Ein Mädchen, das keine Zahnbürste kennt. Ein Junge, der für Scherze Schläge erhielt. Ein Erzieher berichtet aus einer Kinderheim-Intensivgruppe.
Wenn Dirk Tepper* (30) nach Feierabend die Tür schließt, dann ist es schwer, auch mit den Gedanken abzuschließen. Abzuschalten. Im Kinderheim arbeitet der Erzieher nun in der Intensivgruppe. Zu der zählen sieben Kinder und ebenso viele Schicksale. Für den 30-Jährigen gibt es Geschichten sowie Momente, die bleiben – und immer wieder Lichtblicke.
In Erinnerung geblieben sind Kinder, wie das kleine Mädchen, das noch nie eine Zahnbürste besessen hatte. Die Grundschülerin hatte nie gelernt, wie sie sich die Zähne putzt. Oder der Junge, der sich eines Tages traute, Scherze zu machen. Ein Verhalten, für das es zu Hause Schläge gab. Zwei der zahllosen Fälle von Vernachlässigung und Gewalterfahrung.
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Sechs- bis Zwölfjährigen kommen häufig lediglich mit einer psychiatrischen Diagnose
Anders als in der Regelgruppe seien die Mädchen und Jungen in der Intensivgruppe (heilpädagogisch-orientierte Gruppe) nicht so selbstständig, beschreibt Dirk Tepper eine Folge. Wenn die Sechs- bis Zwölfjährigen ankommen, bringen sie mitunter nicht viel mehr mit als ihre psychiatrische Diagnose: Bindungsstörung, ADHS, Störung des Sozialverhaltens, Entwicklungsverzögerung. Viele Kinder benötigen eine begleitende Therapie und im Alltag vor allem mehr Struktur. Im Kinderheim werden sie von sechs Mitarbeitern begleitet, rund um die Uhr. „Es ist ein enges soziales Gefüge, wie in einer Familie und für die Kinder in der Zeit wie ein Zuhause.“
Alle Kinder haben Bezugserzieher, die gleichzeitig immer als Team arbeiten und sich dabei aufeinander verlassen können müssen. „Anders geht soziale Arbeit nicht“, sagt der 30-Jährige wohlwissend, dass es bei den Kindern so vieles zu berücksichtigen gibt. Das könne ein kurzer Augenblick sein, ein Anblick sein, in dem alles kippe. Laute Stimme, Frisur, Haarfarbe, Kleid oder ein Verhaltensmuster reichten aus, damit ein Kind völlig ausraste. „Von jetzt auf gleich auf 100.“
„Den Frust des Kindes zu ertragen und nicht persönlich zu nehmen“
Wenn es sich zunächst nicht beruhigen lässt, keine Umarmung annehmen kann, bleibt dem Erzieher nur eines: aushalten. „Den Frust des Kindes zu ertragen und nicht persönlich zu nehmen“, beschreibt er. Ihnen in der schwierigen Phase beizustehen, sie mit ihnen durchzustehen und zu vermitteln: „Es wird irgendwann wieder die Sonne scheinen.“
Eine weitere Herausforderung in seinem Arbeitsalltag sei es, keine Dankbarkeit zu erwarten. Gleichwohl zu wissen, es folgen lichte Momente, in denen es dem Kind gut geht („Das ist der Dank“). Manchmal erfährt er das erst viel später in einem Brief, wenn ein kleiner Bewohner - nun ein Erwachsener - ihm schreibt. Dann weiß der Erzieher: „Wow, wir haben doch etwas bewirkt.“
Die Zeit im Kinderheim bedeutet für die Mädchen und Jungen Sicherheit
Denn die Zeit im Kinderheim bedeutet für die Mädchen und Jungen Sicherheit und Beständigkeit, sie gehen zur Schule, bekommen Essen, immer ist jemand für sie da. Erfahrungen, die zu Hause manchmal fehlten. Ihre Eltern sind oftmals überfordert, einige haben Drogen- oder Alkoholprobleme, haben selbst Gewalt erlebt, die sich fortsetzt. „Es sind Mütter und Väter, die Schwierigkeiten mit ihrem Leben haben, die selbst ihr Päckchen tragen“, erklärt Dirk Tepper. Er möchte das Handeln nicht verteidigen, vielmehr die Hintergründe verdeutlichen und den Eltern gegenüber respektvoll bleiben.
„Diese Eltern sind nicht böse, sie haben ihr Möglichstes gegeben“, sagt er. Viele strengen sich dann an, wollen mitarbeiten, besuchen ihre Kinder. In der Intensivgruppe würden diese Treffen allerdings regelmäßig von Mitarbeitern begleitet, Übernachtungen der Kinder zu Hause seien erst nach einer längeren Stabilisierungsphase möglich.
Das Familiäre, die besondere Nähe, macht seine Arbeit besonders
Und dennoch: „Das Zuhause ist das Beste“, hört der Erzieher im Kinderheim immer wieder von den Kindern. Mag ihnen noch so viel Schlimmes widerfahren sein, mögen sie unendliches Leid erlebt und ertragen haben und mögen die Folgen noch so dramatisch sein, dieser Gedanke ist bei den Kindern verankert. „Sie kennen es nicht anders.“
In regelmäßigen Gesprächen mit den Eltern lässt sich die Beziehung zu den Kindern häufig verbessern, allerdings reicht es nicht immer, um ein dauerhaftes Zusammenleben zu ermöglichen. Deshalb kehren nicht alle zurück und wachsen im Heim auf, einige schaffen es, in die Regelgruppe zu wechseln. „Die Störungen sind zu schwerwiegend, so dass sie bis zur Volljährigkeit bei uns leben“, beschreibt Dirk Tepper. In all den Jahren, in denen er mit den Kindern lebt („Es ist nicht nur ein Job“), sei dann das Schöne zu sehen, wie sie sich entwickeln und jeder Tag etwas Neues bringt.
Das Familiäre, die besondere Nähe, mache seine Arbeit besonders. Und berührende wie bleibende Momente. Wie bei dem Abschied von dem zwölfjährigen Mädchen. Sie rannte los, umarmte ihn. „Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet“, erzählt Dirk Tepper. „Wir haben bis heute Kontakt.“
*Die Namen aller Erzieher sind geändert, da sie in Zusammenhang mit den erzählten Schicksalen Rückschlüsse auf die Identität der Kinder ermöglichen könnten.