Essen. Die Essener Stahlstraße im Lockdown: Eine Bordellbetreiberin befürchtet, dass Prostituierte dauerhaft in die Illegalität abtauchen.

Die Stahlstraße im Essener Westviertel zählt zu den ältesten Rotlicht-Vierteln der Republik. Nicht nur nachts geht hier in normalen Zeiten die Post ab, auch tagsüber herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Doch spätestens seit dem zweiten Lockdown ist auch in Essens Bordellstraße buchstäblich tote Hose. Und je länger der Stillstand andauert, desto unwahrscheinlicher wird für Bordell-Betreiberin Rebecca, dass die Prostituierten jemals wieder in eines ihrer Häuser zurückkommen. „Die meisten Damen haben sich in der Illegalität eingerichtet, und ich befürchte, dass sie dort bleiben werden.“

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Völliger Stillstand herrscht bei genauem Hinsehen übrigens nicht. Zwei Männer, ein Jüngerer und ein Rentner, schlendern ziellos mitten über die trostlos wirkende Stahlstraße. Ein alltägliches Bild, schmunzelt Rebecca: „Die hoffen wohl, dass vielleicht doch irgendwo eine Tür aufgeht.“ Doch das werde garantiert nicht passieren.

Der Schornsteinfeger ist heute morgen ebenfalls hier, auch ein Heizöl-Händler fährt mit einem Tankwagen vor. Die Bordell-Inhaberin setzt oben in der Küche des lilafarbenen Hauses einen Filterkaffee auf. Vor wenigen Tagen sei eine Frau vorbeigekommen, erzählt sie, um einschlägige Arbeitsutensilien aus ihrem Zimmer abzuholen. Offenbar für immer. „Ihre Andeutungen waren klar genug.“

Bordell-Imperium des Vaters erstreckt sich über Essen. Dortmund, Bochum und Hagen

Ein so genannter Koberraum in der Stahlstraße an einem Märzmorgen 2021: keine Prostituierten, keine Freier. So geht es schon seit mehr als vier Monaten.
Ein so genannter Koberraum in der Stahlstraße an einem Märzmorgen 2021: keine Prostituierten, keine Freier. So geht es schon seit mehr als vier Monaten. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Rebecca heißt in Wirklichkeit anders. Aber um ihre Privatsphäre zu schützen, firmiert sie für das Interview unter diesem Pseudonym. Nach Abitur und kaufmännischer Lehre ist sie vor einigen Jahren in die Fußstapfen ihres Vaters getreten, der mit Rotlicht-Betrieben in Essen, Bochum, Dortmund und Hagen ein Bordell-Imperium im Ruhrgebiet aufgebaut hatte.

Prostitutionsverbot: 2020 ahndet Stadt Essen 100 Verstöße

Nach dem Ende des ersten Lockdowns zog Sozialdezernent Peter Renzel Bilanz: „Es hat illegale Prostitution quer durch die Stadt gegeben.“ Zwischen Mitte März und Anfang September 2020 habe die Stadt rund 100 Verstöße gegen das Prostitutionsverbot geahndet. Die Dunkelziffer dürfte weit höher gewesen sein, hieß es damals.

Bordellbetriebe fallen unter Paragraph 10 der Coronaschutzverordnung („Freizeit- und Vergnügungsstätten“). Unter Absatz 2 heißt es: „Der Betrieb von Bordellen, Prostitutionsstätten und ähnlichen Einrichtungen ist untersagt. Dies gilt auch für die Erbringung sexueller Dienstleistungen außerhalb von Einrichtungen sowie für Swingerclubs und ähnliche Einrichtungen.“

Das uralte Gewerbe mit der Ware Sex steht im Ruf verrucht zu sein, dabei klingt das, was auf ihrem Firmenstempel steht, völlig unspektakulär: „Gewerbliche Zimmervermietung“. Die Geschäftsfrau vermietet Zimmer an Prostituierte, so wie andere Zimmer an Monteure vergeben. Was sich hinter verschlossener Tür zwischen Frauen und Freiern abspiele, gehe sie nichts an. „Ich bin kein Zuhälter“, stellt Rebecca klar.

Die Frauen in der Stahlstraße heißen Lady Lilly, Nora, Denise oder „Miss Elektra“ („von Hart bis Zart“) und bieten sich in gläsernen Vorbauten, Koberfenster genannt, den Männern an. Doch das ist schon lange her. Der erste Lockdown passierte im März 2020 und endete am 11. September mit einem unerwarteten Gerichtsurteil zugunsten der Bordell-Branche. Keine zwei Monate später – an Allerheiligen – folgte Lockdown zwei, der nun schon vier Monate währt und längst nicht vorbei ist.

Die Prostituierte Mirona verschwindet im ersten Lockdown und arbeitet seitdem privat

Die Prostituierte Mirona habe sich schon im vergangenen Frühsommer aus dem lila Haus verabschiedet. „Sie arbeitet jetzt in in ihrer privaten Wohnung“, so Rebecca. Eine andere sei mit dem Mundschutz nicht klar gekommen und daraufhin ebenfalls „im Privaten verschwunden“.

Ein Bild aus der Zeit vor Corona: Es entstand im Dezember 2017.
Ein Bild aus der Zeit vor Corona: Es entstand im Dezember 2017. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Sex-Arbeit in der Stahlstraße – das bedeutet in der Regel: Die Frauen sind nach dem Prostituiertenschutzgesetz beim Gesundheitsamt gemeldet und besitzen den „Hurenpass“, die meisten zahlen Steuern und sind krankenversichert. Etablissements wie in der Stahlstraße, das ist der Bordell-Chefin wichtig, gäben ihnen ein Gefühl von Sicherheit. „90 Prozent der Prostituierten führen ein klassisches Doppelleben“, sagt Rebecca. Niemand im Verwandten- oder Freundeskreis dürfe erfahren, dass sie in Wirklichkeit anschaffen gehen. Illegale Prostitution erscheint dagegen wie ein Dschungel, in dem Ausbeutung von Frauen und Schutzlosigkeit vorherrschen, Menschenhandel und organisierte Kriminalität.

Die Pandemie haben den bedenklichen Trend in die Illegalität, der schon vor ihrem Ausbruch zu beobachten gewesen sei, dramatisch verstärkt. „Einigen Frauen bleibt mittlerweile keine andere Wahl, sie sind auf das Geld angewiesen.“ Ihre Dienste würden sie zunehmend in einschlägigen Erotik-Portalen anbieten oder in sozialen Netzwerken wie Facebook und Instagram. Die Smartphone-Generation wiederum schätze Dating-Portale wie Tinder. „Je länger der Lockdown dauert, desto unwahrscheinlicher wird es, dass die Frauen wieder in die Stahlstraße zurückkommen.“

Wohnungs-Prostitution: Bordell-Betreiberin dringt auf mehr Kontrollen

Dankbar ist die Bordell-Chefin angesichts der aktuellen Misere der Essener Beratungsstelle „Freiraum“, die eine „Riesenarbeit“ geleistet habe, indem sie etlichen Frauen zu Arbeitslosenhilfe verholfen habe. Nur die wenigsten kämen in den Genuss staatlicher Soforthilfen. Gerne würde sie sehen, dass Ordnungskräfte den illegalen Sektor Wohnungs-Prostitution besser kontrollierten. „Hinweise gibt’s ja genug, aber anscheinend fehlt das Personal.“

Erfolge, wie die Polizei sie Anfang Februar verbuchte, bleiben die Ausnahme. In einem Hotel auf der Friederikenstraße in Essen-Rüttenscheid sollen drei junge Rumänen ein mutmaßlich illegales Bordell betrieben haben. Die Polizei ermittelt gegen sie wegen Zuhälterei und Ausbeutung. Bei der Razzia stießen Bereitschaftspolizisten auf sechs rumänische Frauen im Alter von 20 bis 34 Jahren, außerdem fanden sie Sexspielzeug, Reizwäsche und andere branchentypische Utensilien.

Wer sich wie das Prostitutionsgewerbe unter dem Radar bewegt, besitzt zwangsläufig keine Lobby. Im letzten Sommer zogen 120 Sexarbeiterinnen und Bordellbetreiber durch die Kölner Innenstadt, um gegen die ihrer Ansicht nach viel zu harten Corona-Regeln in ihrem Gewerbe zu demonstrieren. Auch Bordell-Chefin Rebecca ging damals auf die Straße. Auf ihrem Mund-Nasen-Schutz stand die Parole „Öffnet die Bordelle“. „Im ersten Lockdown haben sie uns um die Sommermonate betrogen.“

Wann die Stahlstraße wieder zur Normalität zurückkehrt, wisse im Moment niemand. „Wünschenswert wäre die Öffnung nach den Osterferien“, sagt Rebecca. Aber die „Freiraum“-Leute hätten sie bereits gewarnt: Vor Juni werde das bestimmt nichts.

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