Essen. Hilal (22) sucht einen Ausbildungsplatz, doch ihr Abischnitt ist schlecht. Statt zu lernen, hat sie sich um die krebskranke Mutter gekümmert.
Seit sie zwölf ist träumt Hilal davon, Polizistin zu werden. Dafür bewirbt sich die heute 22-jährige bundesweit, treibt exzessiv Sport, um die Eingangsprüfungen zu schaffen. Doch es hagelt nur Absagen. „Mein Fachabi ist einfach zu schlecht“, glaubt die junge Essenerin. Der mäßige Abischnitt ist bleibende Erinnerung an eine schwierige Zeit: Als ihre Mitschüler sich auf die Abiprüfungen vorbereiteten, saß Hilal am Krankenbett ihrer sterbenden Mutter, begleitete und pflegte sie – und kümmerte sich gleichzeitig um ihren 11-jährigen Bruder.
Hilal ist gerade volljährig, auf dem Weg zu einem guten Abi und einer vielversprechenden Zukunft, als ihre alleinerziehende Mutter die Nachricht bekommt, die alles verändert: Lymphdrüsenkrebs lautet die Diagnose. „Im Krankenhaus machte man uns große Hoffnungen, dass die Chemotherapie den Krebs besiegen würde“, sagt Hilal, „darauf haben wir vertraut“.
Sie wollte es unbedingt alleine schaffen
Stark sein für Mutter und Bruder, sich den Kummer und die Sorgen nicht anmerken lassen, weitermachen, um irgendwie zu funktionieren – so versucht Hilal dem Schicksal zu begegnen. Stets ist sie an der Seite ihrer Mutter, begleitet sie bei allen vier Chemotherapien, spricht ihr Mut zu, übernachtet, wenn es ganz schlimm ist, auch schon mal bei ihr im Krankenzimmer. „Und ich habe als Dolmetscherin fungiert, da meine Mutter die medizinische Fachsprache nicht so gut verstanden hat“, sagt Hilal.
Wenn Hilal mal nicht im Krankenhaus ist, kümmert sie sich um ihren kleinen Bruder, der gerade vor dem Wechsel in die weiterführende Schule steht. Von der Schwere der Krankheit erzählt sie ihm nichts, sie will ihn beschützen. Kein Erwachsener steht ihr in dieser Zeit zur Seite, Familie hat sie in Essen keine – und Fremde darum zu bitten, kommt ihr nicht in den Sinn. „Da bin ich zu stolz, ich habe gedacht, das muss ich allein schaffen.“ Außerdem hat sie große Angst davor, dass man sie und ihren Bruder trennt.
Verzweifelt kämpft sie um das Leben der Mutter
Erst als der Schulwechsel des Bruders nicht funktioniert, deswegen ein Bußgeldbescheid im Briefkasten landet, vertraut sich Hilal einer Lehrerin an. Die schaltet das Jugendamt ein und erreicht, dass den beiden eine Notmutter zur Seite gestellt wird. Eine zusätzliche Haushaltshilfe, die Hilal bei der Krankenkasse beantragt, wird abgelehnt: Schließlich sei sie ja über 16 Jahre alt und müsse das allein schaffen, habe die lapidare Begründung gelautet.
Kraft, dem zu widersprechen, hat die damals 19-Jährige nicht. Die Kraft braucht sie schließlich für ihre Mutter. Also kämpft Hilal weiter, zeigt nach außen Stärke und ist doch innerlich total verzweifelt: Denn die Chemotherapien halten den Krebs nicht auf. „Sie müssen sich von ihrer Mutter verabschieden“, raten ihr die Ärzte. Doch Hilal will ihre Mutter nicht gehen lassen, drängt auf mehr Therapie – und muss eines Tages doch das Unfassbare, den Verlust ihrer Mutter, akzeptieren.
Erst nach dem Tod der Mutter nimmt sie die Hilfe des Essener Vereins „Menschenmögliches“ an, der sich um Kinder und Jugendliche kümmert, deren Eltern an Krebs erkrankt sind. Dort arbeitet die Familientherapeutin Carina Vorbohle zunächst mit dem kleinen Bruder, begleitet ihn in seiner Trauer. „Fast sechs Monate lang haben wir eine große Erinnerungskiste für seine Mama gebaut“, erzählt sie. Nach und nach kommt auch Hilal hinzu, fasst Vertrauen und öffnet sich gegenüber Carina Vorbohle. Sie spricht zum ersten Mal über ihre Gefühle und ihre Trauer, das tut gut.
Die alte Wohnung barg zu viele schmerzliche Erinnerungen
Mit Unterstützung des Vereins und des Vormundes, der mittlerweile für ihren Bruder bestellt wurde, geht sie die nächsten wichtigen Schritte an: Sie findet eine neue Wohnung, die nicht so stark und schmerzlich an die Mutter erinnert, und eine neue gute Schule für den kleinen Bruder. Gleichzeitig ermuntert die Therapeutin sie, sich ihrer Zukunft zuzuwenden und unterstützt sie bei Bewerbungen. Dazu gehört auch ein neuer Laptop, den der Verein ihr schenkt. Möglich macht das eine Spende von Susanne Lichtenberg.
Verein nimmt schwere Last von kleinen Schultern
„Schwere Last von kleinen Schultern nehmen“ – unter diesem Motto setzt sich der Verein „Menschenmögliches“ seit 2011 für Menschen ein, die schwer an Krebs erkrankt sind. Das Projekt hat dabei vor allem die Kinder und Jugendlichen in den Familien im Blick.
Der Verein begleitet die Familien in dieser schweren Zeit, bietet professionelle Unterstützung durch ausgebildete Therapeuten an. Dazu gehören regelmäßige Einzelkontakte mit den Kindern, Familiengespräche, Eltern- und Paargespräche, Netzwerkgespräche und Trauergruppen. Mehr Infos unter: 17424366 , per Mail: familien@menschenmoegliches.de oder auf: www.menschenmoegliches.de
Nun fehlt nur noch ein Ausbildungsplatz – mittlerweile bewirbt sich Hilal nicht nur bei der Polizei, sondern auch bei der Stadt. Doch auch da erhält sie nur Absagen. „Die Verantwortlichen urteilen halt nach meinen Noten.“ Um zu demonstrieren, dass sie es auch besser kann, hat sie bei manchen Bewerbungsschreiben ihr gutes Fachoberschulreifezeugnis dazugelegt, doch auch das half nicht. „Ich kann ja schlecht als Erklärung meine ganze Geschichte dazu schreiben“, sagt sie.
Auf die deutsche Staatsbürgerschaft wartet sie schon lange
Gleichzeitig versucht sie, endlich die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen – sie ist Voraussetzung für die Bewerbung zum Beispiel bei der Bundespolizei. „Ich habe alle Papiere zusammen, doch bislang scheitere ich immer an den langen Wartezeiten in der Ausländerbehörde, werde stets vertröstet“, sagt sie.
Trotzdem: Aufgeben kommt für Hilal nicht infrage. „Ich habe so vieles bewältigt, das werde ich auch noch schaffen.“ Eine gute Ausbildung, damit sie auf eigenen Beinen stehen kann – das war auch der Wunsch ihrer Mutter.
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