Essen/Bottrop. Markus Elstner wurde als Kind von einem Kaplan missbraucht. Nach 40 Jahren zog der Täter zurück ins Ruhrbistum – und Elstner hat wieder Alpträume
Er war cool, langhaarig, gab Jungen Alkohol und Zigaretten, steckte ihnen Geld zu. Er war der Kaplan. Und Markus Elstner war ein Kind, das eine Katastrophe erlebt hatte.
Zehn Jahre war er alt, als sein Vater 1976 auf die Mutter schoss und sich selbst tötete. „Er hatte versucht, die ganze Familie auszulöschen“, sagt Elstner. Es war ihm nur nicht gelungen, die Kinder aus der Schule zu holen. Die Mutter sei in letzter Minute gerettet worden, der Kampf um ihr Leben dauerte lang. Anderthalb Jahre lebten Markus Elstner und seine kleine Schwester im Kinderheim.
Mehr als 40 Jahre ist das her, und nie vorbei. Denn der junge Kaplan, der damals als Retter der Familie auftauchte, hat Zeit seines Lebens Kinder missbraucht. Ein Täter in kirchlichen Diensten, oft versetzt und nie gestoppt. Wie berichtet, ist der heute 72-Jährige in diesem Mai in sein Heimatbistum Essen zurückgekehrt, nachdem man ihn 1980 ins Bistum München-Freising abgeschoben hatte. Dort hat der Priester immer wieder Jungen von elf, zwölf Jahren gefügig gemacht, meist nach dem Muster das er schon in den 1970er Jahren erprobt hatte, in Kirchengemeinden in Essen – und Bottrop.
Der Geistliche gab dem Jungen Alkohol und zeigte ihm, was er tun sollte
Markus Elstner lebt bis heute in Essens Nachbarstadt, kommt weiter am Tatort vorbei. Es ist die frühere Wohnung des Kaplans, in die der den Jungen einlud, über Nacht. Der Geistliche sei einnehmend gewesen, ein Mann mit sozialer Ader, „der als Vaterersatz auftrat“. Elstners Mutter war katholisch, ging sonntags zur Messe, vertraute dem Kaplan, der sich um den Sohn kümmern wollte.
„Der hat es geschafft, jeden zu begeistern“, erinnert sich Markus Elstner, der damals Messdiener war. Mit zwölf habe er das erste Mal dort übernachtet. „Er saß im Bademantel neben mir auf der Couch, gab mir Messwein, auf dem Tisch lagen Hefte.“ Pornohefte. Der Kaplan habe begonnen ihn zu streicheln, „und an mir gezeigt, was ich bei ihm machen soll“. Er habe alles über sich ergehen lassen, unter Schock. „Ich war nicht mal aufgeklärt, wusste nicht: Ist das erlaubt oder verboten?“
Wenn er da schlafen durfte, musste das wohl alles richtig sein, so die kindliche Logik, die ihn immer wieder zurückkehren ließ. 15 oder gar 20 Mal. Der Kaplan, der selbst trank, erhöhte von Treffen zu Treffen die Dosis, aus Wein wurde Bacardi, für Markus mit Fanta verdünnt. Nicht nur der Alkohol wurde härter, auch das, was er dem Kind abverlangte. „Ich musste ihn oral befriedigen.“
Der Priester spricht von „tollen Buben“, die locker über Sex geredet hätten
Jahrzehnte später hatte das Recherchezentrum „Correctiv“ Einblick in die Akten einer kirchlichen Befragung. Er sei ein „pädophiler Priester“ räumt der Mann da ein, erzählt von „tollen Buben“, die locker über Sex geredet hätten: Es sei halt eine andere Zeit gewesen. Und: Er sei nie gewalttätig geworden. Es ist eine eigenwillige Definition von Gewalt. Markus Elstner, ein Mann von kräftiger Statur, sagt; „Ich erstarre noch heute, wenn mir jemand ans Knie fasst.“
Damals war es nicht nur die Hand des Kaplans, sondern auch das Geld, das er dem Jungen gibt: „Dafür fühlte ich mich schuldig.“ Er erzählt niemandem, was ihm geschieht; begleitet die Mutter weiter brav zur Messe. Einmal läuft er mitten in der Nacht im Schlafanzug vom Kaplan weg nach Hause. „Wenn ich das heute träume, sehe ich mich nackt weglaufen.“
Um sich zu betäuben, trinkt er, bevor er zum Kaplan geht
Irgendwann greift er schon zum Alkohol, bevor er zu dem Geistlichen geht, betäubt sich. „Er hat mich zum Alkoholiker gemacht.“ Mit 13 bricht er auf dem Kirchplatz zusammen, nachdem er eine Flasche Doornkaat getrunken hat. Er ist aufsässig, scheitert in der Schule, kommt monatelang in die Jugendpsychiatrie. Und schweigt. Selbst als der Kaplan nach Essen versetzt wird, weil andere Jungen nicht länger geschwiegen haben. Die Kirche deckt den Täter, so dass der noch bei Elstners Mutter anruft: Sie solle den Jungen doch mal zu ihm nach Essen schicken.
Der 14-Jährige fährt nicht, schläft zu Hause – aber unter seinem Bett. Macht wieder in die Hose. Die Mutter hört Gerüchte über den Kaplan, fragt ihren Sohn, der verneint. „Ich war nicht in der Lage, darüber zu sprechen, ich hätte das nicht mal beichten können.“ Die Mutter sagt sich, dass es auch andere Gründe geben könnte: die Pubertät, das Familiendrama.
Als er der Mutter alles erzählt, erleidet sie einen Schlaganfall
Er habe damals nur nicht auffallen wollen, nicht mal den Mut gehabt, im Unterricht aufzuzeigen. Am Zehnthof in Essen-Kray holt er später den Hauptschulabschluss nach: „Das war klasse, da kam ich zu Hause, aus dem Milieu, mal ‘raus.“ Doch es gibt kein Happy End in seinem Leben, nur Enden: Nach einem Jahr ist es mit jedem Job, jeder Frau vorbei: „Spätestens wenn eine Freundin fragte, was mit mir los sei.“ Die einzige Konstante ist der Alkohol, bis 2009 auch Drogen.
Als 2010 der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche hochkocht wird, merkt Elstner: „Ich bin nicht allein, da gab es andere, auch hier.“ Die Therapeutin, die ihn wegen der Familientragödie betreut, ermutigt ihn, Anzeige zu erstatten. „Ich lernte, dass es hilft, darüber zu sprechen.“ Sogar seiner Mutter vertraut er sich nun an: „Sie erlitt einen Schlaganfall, als sie das erfuhr.“ Ihr Sohn pflegt sie zwei Jahre lang.
Andere Betroffene haben sich umgebracht oder töten sich auf Raten
Gleichzeitig sucht er selbst verzweifelt Hilfe, klappert Gesundheitsamt, Trauma-Klinik, Therapeuten ab, landet auf Wartelisten. Ein Sachbearbeiter beim Jobcenter rät ihm, sich eine Selbsthilfegruppe zu suchen. Es gibt keine in Bottrop. Doch der Tipp sei gut gewesen: „Ich habe 2013 selbst eine gegründet. Da habe ich viele Freunde gefunden.“
Er lernt Männer kennen, die wie er von dem Kaplan missbraucht wurden, hört von anderen, die sich umgebracht haben oder sich mit Alkohol und Drogen auf Raten töten. „Ich habe mich irgendwann entschieden weiterzuleben, zu kämpfen.“ Zuletzt hat er ein paar Schlachten gewonnen: Er ist seit Februar trocken, hat seit dreieinhalb Jahren eine Lebensgefährtin, „die von Anfang an Bescheid wusste“. Mit ihr ist er im Sommer durch Bayern gereist, auf den Spuren seines Peinigers.
Seit der Priester zurück ist, quälen ihn wieder Alpträume
Der Correctiv-Bericht hatte dessen Stationen nachgezeichnet, und Elstner stellt auf der Reise fest: „Der ist nie bestraft worden, die Orte an denen der eingesetzt war, wurden immer schöner.“ Die Fahrt macht er im August, im September erfährt er, dass der heute 72-jährige Priester wieder nach Essen gezogen ist. „Das war wie ein Schlag in die Fresse.“
Er wisse, dass die Kirche den einschlägig vorbestraften Pensionär beaufsichtige, in Therapien einbinde. „Eine Fußfessel wäre mir lieber.“ Keinem Kind solle mehr geschehen, was ihm geschehen ist. Er ist jetzt 54 und die Alpträume sind wieder zurück; er gehe mit Scheuklappen durch die Stadt. „Ich habe Angst, ihm zu begegnen, wieder der kleine Junge zu sein – und gelähmt.“
>> Kampf um Entschädigung dauert an – Taten bleiben strafrechtlich ungesühnt
Als er seinen Peiniger anzeigte, habe er sich gut gefühlt, sagt Markus Elstner. Im Jahr 2010 erschütterte der Missbrauchsskandal die katholische Kirche, und er hoffte wie viele Opfer auf späte Sühne. Vergeblich: Die Staatsanwaltschaft schrieb, die Taten seien verjährt. Er wandte sich ans Bistum und erhielt 5000 Euro „in Anerkennung erlittenen Leids“. Als Schweigegeld habe er das empfunden: „5000 Euro für ein verpfuschtes Leben.“
Immer habe er nur neidisch auf Familienväter mit Job, Haus, Auto gucken können. Er hat psychische Probleme, eine ruinierte Gesundheit, war lebenslang Hilfsarbeiter, Hartz-IV-Empfänger, Patient. Um jede Hilfe habe er kämpfen müssen. Seit der Priester, der ihn missbraucht hat, nach Essen zurückgekehrt ist, geht es Elstner schlechter. Ein Aufenthalt in der Trauma-Klinik steht an. Dass die katholische Kirche im September angekündigte, nun maximal 50.000 Euro zu zahlen, hat Elstner wie andere Betroffene enttäuscht. Mit seinem Anwalt kämpft er um 500.000 Euro Entschädigung.
Wütend mache ihn, dass der Täter unbehelligt und gut versorgt leben könne. Nur einmal vor vielen Jahren erhielt er eine Bewährungsstrafe. Weil die Kirche weggesehen habe – „und weil seine Taten nicht mehr vor die Strafgerichte kommen“. Ihm schwebt daher eine Regelung wie bei Mord vor, der nie verjährt: „Missbrauch ist Seelenmord.“ Die Politik unternehme leider nichts: „Die lassen uns auf der Strecke liegen.“
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