Essen. . Die katholische Kirche versucht derzeit, Missbrauch und Gewalt aufzuarbeiten. Die Reue komme zu spät, sagt ein früherer Essener Heimzögling.
Siegfried Schmitz hat das Franz Sales Haus 1982 verlassen und die Stadt später auch, doch wenn er zurückkehrt, wenn er nur auf den Backsteinbau an der Steeler Straße in Essen blickt, sind die Prügel und die Demütigungen wieder da. „Bis heute spüre ich meinen Herzschlag, wenn ich dort stehe“, sagt der 57-Jährige. Der katholischen Kirche als Trägerin der Einrichtung nehme er die Reue für das, was Kindern in ihrer Obhut geschah, nicht ab.
In jüngster Zeit unternimmt die Kirche große Anstrengungen, jenen Missbrauchsskandal aufzuarbeiten, der 2010 öffentlich wurde und dessen Dimension erst nach und nach greifbar wurde. Im September 2018 legte die Deutsche Bischofskonferenz eine Studie dazu vor, bekannte sich zu Schuld und Scham. Am Sonntag soll in den Gottesdiensten der Opfer des Missbrauchs gedacht werden. Siegfried Schmitz überzeugt beides nicht: „Wie können die so tun, als ob es ihnen leid tue, als ob sie erst seit einigen Jahren von dem wüssten, was uns angetan wurde?“ Befremdlich finde er, dass für das Bistum Essen lediglich von 84 Missbrauchsfällen die Rede sei. Und schließlich ärgere ihn, dass am Sonntag neben dem Missbrauch nicht auch die Misshandlung von Kindern angesprochen werde.
Er wurde mit dem Rohrstock geschlagen
In den zwölf Jahren von 1970 bis 1982, die er im Franz Sales Haus verbringen musste, habe er erlebt, wie andere Zöglinge missbraucht wurden. „Die Gewalt ging dem Missbrauch voraus.“ So hätten die Nonnen, die die Kinder betreuten, einzelne Jungen eiskalt abgeduscht und ihnen dabei mit einer Bürste die Haut blutig gekratzt. Eine Ordensschwester habe „ihre Lieblinge“ regelmäßig gebadet.
Siegfried Schmitz ist kein Missbrauchsopfer, aber er wurde mit dem Rohrstock geschlagen – und mit der Bibel. Eine Nonne habe ihn nachts an den Haaren aus dem Bett gezerrt, weil er mit seinem Zimmergenossen geflüstert hatte, die ganze Nacht habe er barfuß vor ihrem Zimmer ausharren müssen. „Geschah das im Namen des Herrn?“, fragt er bitter. Müsse nicht auch daran am Sonntag erinnert werden?
Bei vielen lautete die Diagnose: „schwachsinniges Kind“
Sonst wiederhole sich doch, was er schon als Kind erlebte: Niemand wollte von seinem Leid hören. Als er mit elf Jahren ins Franz Sales Haus kam, hatte er schon eine frühkindliche Odyssee hinter sich, war als Baby ins Heim und später wieder zur brutalen Mutter gekommen, zuletzt zwei Jahre zwischen Gewalttätern in der Psychiatrie geparkt worden. Im Franz Sales Haus, das eigentlich geistig behinderte Menschen aufnehmen soll, landeten in den 1960er, 70er Jahren viele Jungen aus zerrütteten Familien, die man sämtlich mit der so falschen wie zynischen Diagnose „schwachsinniges Kind“ versah.
Sie waren den mindestens überforderten, oft gewalttätigen Nonnen, Anstaltsarzt und -leitung praktisch schutzlos ausgeliefert – selbst wenn sie mal Fürsprecher fanden. So ging es Schmitz, um den sich ein vom Kinderschutzbund vermitteltes, nettes Ehepaar kümmerte. Als er sich diesen Paten bei einem Besuch anvertraute und sie dem Leiter des Hauses schrieben, blieb der Brief unbeantwortet. „Und die Repressalien gegen mich wurden schlimmer.“
Andere Bewohner sind an ihrem Schicksal zerbrochen
Viele seiner Mitzöglinge seien an dieser Zeit zerbrochen. Schmitz kämpfte sich aus der Sonderschule bis zur Mittleren Reife, wurde später Erzieher. Er lebt heute in Gladbeck, ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Ohne die Hilfe von Psychologen hätte auch er das nicht bewältigt, betont er. Hilfe von der Kirche habe er nie bekommen, im Gegenteil: Seine Briefe ans Bistum seien unbeantwortet geblieben, Verantwortliche hätten ihre Taten später geleugnet. Die jetzt bekundete Reue klinge daher für ihn wenig glaubwürdig.
Schmitz ist bis heute Mitglied der katholischen Kirche und sagt auch: „Ich denke, dass das Franz Sales Haus heute viel gute Arbeit macht.“ Doch er wünsche sich aufrichtige Anerkennung dessen, was ihm damals geschah: „Für die Justiz ist das verjährt – für mich nicht.“
>>> GEDENKTAG ERINNERT AN MISSBRAUCH
Am Sonntag, 18. November, ruft Papst Franziskus den europäischen Tag zum Schutz von Kindern auch zum kirchlichen Gedenk-/Gebetstag aus. Viele Gottesdienste, auch im Bistum Essen, widmen sich dem Thema.
Der Tag soll auch ein Signal der Gemeinden sein, dass sie Missbrauch in den eigenen Reihen nicht weiter verschweigen.