Essen. Christopher Fromm inszeniert in surrealistischen Bildern „Die Marquise von O...“. Herausragende Leistung des Essener Schauspiel-Ensembles.
„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“, schrieb Tolstoi und er sollte früher wie später recht behalten. Auch bei dieser in Heinrich von Kleists bedeutungsschwangerer Novelle „Die Marquise von O. . .“.
1808 veröffentlicht, zeigt sie die fatalen Folgen von Krieg und dem Ausbruch aus der gesellschaftlichen Ordnung. Die in der Casa begeistert gefeierte Bühnenfassung von Christopher Fromm eröffnet im Schauspiel den Themen-Reigen Familie.
Kleist hat ihr alles mitgegeben: die Authentizität, den psychologischen Ansatz und die Möglichkeit der Emanzipation. Deshalb sieht man ihr das Alter nicht an. Nicht nur, weil sie als Kämpferin in T-Shirt und Military-Hosen ziemlich heutig daherkommt. In stets großem Abstand zu den Geistern ihrer schwer beschädigten Familie nebst Bräutigam erzählt sie ihre modern anmutende Geschichte.
Die Tat verschwindet hinter einem Gedankenstrich
Die beginnt mit einer unerhörten und überaus mutigen Zeitungsannonce, mit der die Marquise, eine untadelige Frau und alleinerziehende Witwe, nach dem Vater ihres ungeborenen Kindes sucht. War sie doch in den Kriegswirren von Soldaten bedrängt, von Graf F. gerettet und in einer Ohnmacht offenbar in andere Umstände geraten. Die moralisch verwerfliche Tat bleibt nicht nur hinter einem der berühmtesten Gedankenstriche der Literatur verborgen, sondern auch auf der Bühne. Man glaubt der Verzweifelten nicht.
Der Schutzraum Familie, in dem sie Trost und Hilfe sucht, versagt. Sie wird, wie es sich gehört, verstoßen. Als sich der rettende Engel als Vergewaltiger herausstellt, ist nur sie außer sich. Um die Ordnung wieder herzustellen, willigt sie in eine Heirat ein. In Rückblenden und Wiederholungen seziert Christopher Fromm das Geschehen zwischen Erinnerung und Albtraum.
Aufgelöster Löschschaum offenbart Vernichtung
Ausstattungsleiterin Frederike Külpmann hat für ihn die Plattform dazu geschaffen. Beäugt von einer zum Teil videografisch bearbeiteten Linse, die auch als romantischer Mond durchgeht, begrenzt von einem abgestorbenen Baum, stehen die Figuren in einer Art Löschschaum, dessen Seifenblasen nach und nach zerplatzen und den Blick auf die Vernichtung freigibt.
Symbolik, wohin man schaut. Ob im Raum, in den eingeschränkten Bewegungsabläufen (Choreographie: Helen Wendt) oder den ganz in Weiß gehaltenen, aber keineswegs unschuldig wirkenden Kostümen samt bleich geschminkter Gesichter (Franziska Schweiger). Sie entlarven die schwere Bürde des Grafen mit gewaltigem Schulteraufbau, den klein gehaltenen Bruder mit affenartigem Gang und Scheuklappen, den Obristen mit Militärmantel, Hinkefuß und Sauerstoffflasche und die eingeschnürte Obristin, die versucht, aus ihrer künstlich aufgezwungenen Haltung auszubrechen.
Regisseur vertraut auf das Schauspielerensemble
Bei aller Liebe zu expressionistischen Stilmitteln vertraut Fromm letztendlich auf die Schauspieler. Und die legen eine glänzende Ensembleleistung hin: Sabine Osthoff als standesbewusste, um Zuneigung ringende Mutter, Jürgen Hartmann, der unter Anselm Weber bereits das Ensemble bereicherte und nun als Gast den gebrochenen Patriarchen gibt, Stefan Migge als nachplapperndem Bruder, Philipp Noack als vielschichtiger Täter und Silvia Weiskopf als Marquise.
Sie verleiht ihr die Zartheit und die Wut und die Kraft, gestärkt aus dieser Krise hervorzugehen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Christopher Fromm beschert ihr weit mehr als das bekannte, aber heute noch unfassbare Happy End mit Hochzeit. Für sie allein geht das Leben weiter.