Essen. „Die Marquise von O . . .“ startet die Schauspielsaison. Aus der skandalösen Novelle macht Christopher Fromm ein Gesamtkunstwerk in der Casa.

Eine junge Frau sucht per Zeitungsannonce den Vater ihres Kindes und damit ihren Vergewaltiger. Zum Zeitpunkt der Tat war sie ohnmächtig und kann sich nicht erinnern. Doch keiner glaubt ihr. Ein Skandal 1808, als Kleists Novelle erscheint. Heute noch ein Aufreger, denn sie wird den angeblichen Retter Graf F. heiraten. Auch Christopher Fromm ist empört und hat den Text für die Bühne adaptiert. Seine emotionsgeladene Inszenierung von „Die Marquise von O . . .“ eröffnet die Schauspielsaison zum Thema Familie in der Casa.

Ein riesiges Auge und ein Lebensbaum dominieren die Bühne

Die Bühne (Friederike Külpmann) wird von einem riesigen Auge auf einer Videoleinwand (Hauke Beck) und einem Lebensbaum dominiert. Die Figuren offenbaren ihre Eigenschaften in einer grotesk wirkenden Körperarbeit (Helen Wendt). Sie tragen absurde Kostüme (Franziska Schweiger) und hinterlassen Spuren in einem Schaum. Die Musik spielt dazu. Mit einem surrealen, symbolträchtigen Gesamtkunstwerk erzählt Christopher Fromm von einer traumatisierten Frau aus ihrer Perspektive.

„Das Auge verweist auf den Blick ins Innere und nach draußen. Wir sind in ihrem Bewusstsein. Wir steigen in die Handlung ein, als alles passiert ist und sie das Geschehen immer wieder reflektiert“, berichtet der 29-Jährige. Als sie den Kreislauf durchbrechen kann, wird die Inszenierung zu einer Heldinnen-Geschichte, in der die Familie im Brennpunkt steht. Das Zeitlose daran: Julietta von O. macht nicht nur eine existenzielle Krise durch, sie verstößt gegen familiäre und gesellschaftliche Konventionen und geht den Weg einer Emanzipation. „Sie schafft es, sich aus eigener Kraft aus der Tiefe zu ziehen“, so Fromm.

Bühnenfassung soll Kleists Schachtelsätze klarer machen

Beim Schreiben der Bühnenfassung ist er „bei Kleists Sprache geblieben. Sie ist wahnsinnig stark und lässt so viel Raum für das, was nicht gesagt wird“. Christopher Fromm will vielmehr, Schachtelsätze klarer und den Dichter spielbar machen. Haltungen und Sichtweisen verdeutlicht er mit Wiederholungen und tiefenpsychologischem Ansatz. Der Fan des Beat-Autors William S. Burroughs nutzt gern expressionistische Stilmittel und große Assoziationsflächen. Nach der Adaption von Hesses „Steppenwolf“ am Staatstheater Oldenburg ist dies seine zweite Regie-Arbeit.

Der Videoeinsatz gehört für ihn dazu, der hier den Fokus auf die Figuren legt, aber auch Bühnenbild und Emotionen komplettieren soll. Und das kommt nicht von ungefähr. Christopher Fromm, aufgewachsen in Oldenburg, auf Spiekeroog und der Isle of Man, studierte Film- und Fernsehregie in Hamburg. „Das war sehr TV-orientiert. Das war nichts für mich“, erzählt er. Über ein Praktikum am Theater wird er dort Videograf und übernimmt später Regieassistenzen. Auf Empfehlung von Regisseur Karsten Dahlem geht er 2018 nach Essen. Ihn sieht er als seinen Mentor. Doch auch von Tobias Materna („Cash“) und Nils Voges („Inferno“) habe er viel gelernt.

Als das Theater im März diesen Jahres wegen Corona geschlossen und die Premiere von „Die Marquise von O . . .“ auf September vertagt wird, muss die Inszenierung unter neuen Vorzeichen gedacht werden. „Das exzessive Sprechen macht einem Kopfzerbrechen“, erklärt Fromm. Sechs Meter Abstand halten oder mit dem Gesicht abgewandt sprechen, ist neben Hygieneregeln angesagt. „Auf Abstand gehen, ist eher ein Zugewinn für „Die Marquise von O . . .“, stellt er fest. „Über Berührungen, die nicht wahr werden, lässt sich viel erzählen.“