Essen. Jelena Ivanovic zeigt das Stück „Heimat?“ in Essens ältestem Schrebergarten. Laubenpieper werden dabei zu Zaungästen in ihrer eigenen Anlage.

Willkommen in Heimland: Rasenflächen wie samtiger Teppichboden, Apfelbäume, die sich unter der Last ihrer paradiesischen Früchte biegen, und kein Gartenzwerg weit und breit. In den grünen Oasen bürgerlicher Behaglichkeit tragen sie jetzt Frack statt Zipfelmütze. Wer als echter „Heimlander“ dazugehören möchte, muss erst mal einen Antrag ausfüllen und abstempeln lassen.

Dass die Bürokratie im Schrebergarten ins Kraut schießen kann wie der wilde Knöterich, mag soweit bekannt sein. Jelena Ivanovic aber sägt mit ihrem Tanz- und Theaterabend lustvoll an der tief verwurzelten Vorstellung vom harmlosen Idyll. Für die Premiere ihrer Produktion „Heimat?“ im Kleingartenverein am Kirschbaumsweg in Haarzopf gab es am Wochenende viel Applaus.

Aus „Maikäfer flieg“ wird eine Musik für tanzende Gartenzaunkrieger

Tanz in der Kleingartenkolonie: Das Ensemble bei der Arbeit.   
Tanz in der Kleingartenkolonie: Das Ensemble bei der Arbeit.    © Karina Ter

Drei Jahre hat die Essener Choreografin und Kunstmanagerin das Grugabad zur Bühne gemacht. Dem „Kunstbaden“ folgt nun gewissermaßen das Kunstgärtnern. Es scheint in Zeiten von Corona eine ideale Form der Open-Air-Bühne – mit viel Platz, frischer Luft und traumhaften Bildern. Etwa, wenn Anna Wehsarg anmutig wie eine Elfenkönigin durch verwunschene Blumenbeete tanzt und im Duett mit Jelena Ivanovic später Franz Josef Degenhardts „Schmuddelkinder“ tänzerisch über die Wiese toben lässt. Wenn Murat Alkan und Damiaan Bartholomeus Veens die Paradoxie des von Markus Stollenwerk zuvor samtig gesungenen Wiegenlieds „Maikäfer, flieg“ als Gartenzaunkrieger zu bedrohlichen Trommelschlägen in Bewegung übertragen. Wenn sich Murat Alkan in einer augenzwinkernden Action-Choreografie zum Jäger des verteufelten Unkrauts verwandelt und Rainer Besel im deftigen Ruhrpott-Ton über die eigentliche Natur des Laubenpiepers sinniert.

Auf dem schmalen Grat zwischen Poesie und Persiflage nimmt „Heimat?“ die Besucher mit auf die Suche nach deutschen Befindlichkeiten, Sehnsüchten und Ideologien und erklärt dieses Stück reglementierte deutsche Erde zum heilsbringenden Ort, zur konservativen Utopie. Wo man nie so ganz genau weiß, ob uns hier gerade eine grüne Sekte oder eher ein bodenbraunes Politvolk die Agenda eines besseren Lebens diktiert.

Die Kunstfreunde schauen über fremde Hecken

In Essens ältester Schrebergartenkolonie am Kirschbaumsweg in Haarzopf hat man sich mit schöner Offenheit auf das Experiment eingelassen, einmal Zaungast im eigenen Theater zu sein. Und so schauten sich am Wochenende zwei Gruppen wohl gegenseitig mit Interesse zu – die Kleingärtner und die Kunstfreunde, die, bewaffnet mit kleinen Höckerchen, über fremde Hecken lugen konnten, als würde sich dahinter eine ganz eigene, eingezäunte Welt offenbaren.

Die nächsten Termine in Duisburg

„Heimat?““ spielt nicht nur in Essen. Die Tanz- und Theaterproduktion von und mit Jelena Ivanovic ist auch im Garten der Erinnerung im Duisburger Innenhafen zu sehen.

Vorstellungen gibt’s am 4. September, 20 Uhr, und 6. September, 11.30 u. 18 Uhr. Tickets (16/erm. 13 €) werden unter info@jelena-ivanovic.com reserviert

Szenisch eingerichtet und wirkungsvoll ausgeleuchtet wurde der Marsch durch den Schrebergarten so zur facettenreichen Begegnung mit einem ebenso oft benutzen wie verpönten Begriff. Am Ende stehen hinter der Vorstellung von Heimat zwar immer noch viele Fragezeichen. Vor dem Heimlander wird man sich in Zukunft aber tunlichst hüten!