Essen. Tanz, Musik und Schauspiel im Schrebergarten. „Kunstbaden“-Erfinderin Jelena Ivanovic macht die Kolonie zum Ort der Utopie und zeigt „Heimat?“.

Willkommen in „Heimland“: Sattgrüner Rasen, üppige Lavendelbüsche und sauber gestutzte Hecken, hinter denen eine Spezies lebt, die in diesen Tagen gerade einen zweiten Frühling erlebt – die Kleingärtner. Lange galten ihre Parzellen als Horte gepflegter Spießbürgerlichkeit. Für die Essener Choreographin und Kunstraum-Eroberin Jelena Ivanovic aber sind die Kolonien vor allem ein kreatives Biotop, in dem es viel mehr zu entdecken gibt als Kohlrabi-Beete, Stachelbeersträucher und wild wucherndes Farn. Ivanovic will zwischen Baum und Wiese ein Stück Heimat erkunden und dem deutschen Kleingartenwesen in all seiner blühenden Buntheit und Widersprüchlichkeit auf den (Löwen-)Zahn fühlen, wenn sie im August ihre neue Tanz- und Theaterproduktion „Heimat?“ präsentiert.

Ab ins Beet: Felix Brockerhoff (li.) und Philipp Rosenau (re.) erleben gerade, wie Choreografin Jelena Ivanovic den Kleingarten zum Kunstraum macht.
Ab ins Beet: Felix Brockerhoff (li.) und Philipp Rosenau (re.) erleben gerade, wie Choreografin Jelena Ivanovic den Kleingarten zum Kunstraum macht. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Auf die erfolgreiche Kunstbaden-Reihe, die in diesem Sommer zum letzten Mal das Grugabad zur Bühne für Konzerte, Lesungen und Tanz macht, folgt nun also das Kunstgärtnern. Premiere ist in Essens ältester Kleingartenanlage in Haarzopf. Weitere Vorstellungen gibt es im September im Duisburger Garten der Erinnerung.

Die Essener Kolonie am Kirschbaumsweg, nur wenige hundert Meter Luftlinie von der neuen Mitte Haarzopf entfernt, gibt es schon seit Ende des 19. Jahrhunderts. Es ist ein kleines grünes Paradies zwischen dichter Neubausiedlung – und ein bisschen auch gallisches Dorf. Zwei Drittel der Fläche sind in den vergangenen Jahren zwar schon bebaut und versiegelt worden, von den einst 118 Pächtern sind noch knapp 40 da. Doch die tun viel, um die Idylle zu bewahren. Nicht durch Abschottung, sondern durch positive Aufmerksamkeit. Angebote wie ein Schulgarten oder ein Garten für Flüchtlinge sollen Signal und Einladung an die Stadtgesellschaft sein, dass man es mit der Öffnung ernst meint. Und nun kommt auch noch eine Kunstschaffende wie Jelena Ivanovic und macht das Beet zur Bühne.

Ein Stück Freiheit vor der Haustür – und hinter hohen Hecken

Gesorgt hat dafür Philipp Rosenau. Der 26-Jährige ist so etwas wie der Gegenentwurf zum Kleingärtner-Klischee. Hippe Erscheinung mit frischen Ideen und seit vier Jahren stolzer Parzellen-Pächter. Als er in dieser Zeitung von der geplanten Kunstaktion gelesen hat, war ihm sofort klar: „Da machen wir mit.“ Von Felix Brockerhoff, Freund und Vereinsvorsitzender am Kirschbaumsweg, gab es sofort Unterstützung. Seit ein paar Wochen sind Jelena Ivanovic und ihr Team aus Tänzern, Musikern und Schauspielerin nun schon in der Anlage unterwegs und die Spannung steigt. „Wir wissen ja auch nicht so genau, was kommt!, sagt Brockerhoff.

Ein neues Terrain für die Tänzerin und Choreografin Jelena Ivanovic tut sich in der Kleingartenanlage am Kirschbaumsweg auf.
Ein neues Terrain für die Tänzerin und Choreografin Jelena Ivanovic tut sich in der Kleingartenanlage am Kirschbaumsweg auf. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Kein eins zu eins, keine Kleingarten-Revue, versichert Ivanovic, die sich für ihre Theater-Utopie viele Vorstellungen von Heimat hat schildern lassen. Von der kleinen Freiheit vor der Haustür, von Sicherheit und Geborgenheit, aber auch von Ordnungsliebe, genauen Vorschriften, von einem Ort, der Gemeinschaft verspricht und für manchen doch vor allem Rückzugsraum bieten soll. Deshalb auch sind die Hecken so hoch, dass man nicht einfach drübergucken kann, sondern zur Vorstellung ein Höckerchen ausgehändigt bekommt. Einen Besucherschein gibt es in „Heimland“ auch. Und eine Hymne darf als tönerner Ausdruck echter Heimatliebe natürlich auch nicht fehlen.

Auch die Inklusion hat Einzug gehalten

Wobei sie im echten Laubenpieper-Leben nun wirklich nicht dauernd singen und feiern und auf eingeschworene Gemeinschaft machen. Eine Kleingartenkolonie vereine nun mal den „Querschnitt der Gesellschaft“, sagt Felix Brockerhoff, „alt und jung, arm und reich“. Brockerhoff ist Anfang der 1990er Jahre aus Kanada ins Ruhrgebiet gekommen. Er hat die Abendschule besucht, Deutsch gelernt und Arbeit gefunden. Was ihm fehlte, war die Natur. Inzwischen ist Brockerhoff Vereinsvorsitzender am Kirschbaumsweg, gerade mal 46 und doch schon längst nicht mehr das Greenhorn auf der Haarzopfer Scholle.

Produktion mit vielen Förderern

„Heimat?“ ist am 7. und 8. August, 20.30 Uhr, sowie am 9. August, 11.30 und 18 Uhr, in der Kleingartenanlage KGV Kirschbaumsweg in Haarzopf zu sehen. Weitere Vorstellungen gibt es am 4. September, 20 Uhr, und 6. September, 18 Uhr, im Garten der Erinnerung im Duisburger Innenhafen.

Wegen der aktuellen Corona-Situation sind nur 30 Personen pro Vorstellung zugelassen, es gibt eine Warteliste. Tickets und Infos info@jelena-ivanovic.com

Zum Team gehören neben Jelena Ivanovic auch Murat Alkan, Rainer Besel, Jelena Ivanovic, Esther Krause Paulus, Markus Stollenwerk, Damiaan Bartholomeus Veens und Anna Wehsarg.

Die Produktion wird unter anderem von verschiedenen Stiftungen, dem Essener Kulturamt und dem NRW-Heimat-Ministerium gefördert.

Es liegt bestimmt auch daran, dass junge Familien einen gewissen Vorteil auf der Warteliste haben, die momentan an die 60 Bewerber zählt. „Familien mit Kindern verändern die Anlage“, findet Brockerhoff und arbeitet gerade schon am Umbau des Vereinsheims in Zusammenarbeit mit der Lebenshilfe, um auch der Inklusion das Gartentörchen aufzustoßen. Der Kleingarten sei für viele immer noch mit einem gewissen Maß an Kleingeist verbunden, weiß der Vereinsvorsitzende. „Aber ich will’s genau anders machen.“