Essen. Die neue Leiterin der Stadtbibliothek, Anja Flicker, will das Angebot stärker auf Kundenbedürfnisse abstimmen. Das gilt auch für die Einrichtung.

„Libraries change lives.“ Bibliotheken verändern Leben. Für Anja Flicker formuliert dieser Satz auch in Zeiten von Google-Wissen immer noch Überzeugung und Arbeitsauftrag. Weil die Corona-Pandemie unser Leben momentan aber noch stärker verändert als die Orte der Bücher, erlebt die neue Essener Bibliothekschefin einen ungewöhnlichen Start. Denn auch wenn die Zentralbibliothek an der Hollestraße seit dieser Woche wieder wie gewohnt als „Ort des Lernens“ zur Verfügung steht, ist die Nutzung momentan noch eher verhalten. Anja Flicker bietet die Situation zumindest die Gelegenheit, erste interne Prozesse anzustoßen und eine Rundreise durch die Essener Stadtbibliotheken anzutreten.

Die Stadtteilbibliothek in Würzburg sieht aus wie ein gemütliches Wohnzimmer

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Die 50-jährige Nachfolgerin des langjährigen Bibliotheksdirektors Klaus-Peter Böttger bringt Erfahrungen aus Würzburg mit. Rund zehn Jahre hat die gebürtige Gütersloherin die Stadtbibliothek der unterfränkischen Universitätsstadt geleitet, nachdem sie zuvor acht Jahre in der freien Wirtschaft als Wissensmanagerin tätig war. Die in den Unternehmen gesammelten Erfahrungen im Bereich Organisationsentwicklung möchte sie nicht missen. Und doch hat der 2003 als „Wissensmanagerin des Jahres“ ausgezeichneten Diplom-Bibliothekarin nach einiger Zeit etwas gefehlt: „Die Sinnstiftung“, sagt Anja Flicker und formuliert ihr Credo so. „Etwas Gutes erreichen für die Stadtgesellschaft.“

Auch so kann Bibliothek aussehen: Ein Blick in die Würzburger Stadtteilbibliothek Hubland.   
Auch so kann Bibliothek aussehen: Ein Blick in die Würzburger Stadtteilbibliothek Hubland.   © Marco Heyda

Den Bedürfnissen der Kunden oberste Priorität einzuräumen, bedeutet für Flicker nicht nur, an möglichst vielen Tagen die Woche möglichst lange Öffnungszeiten anzubieten – wobei das Publikum nicht durchgehend beraten wird, sondern der Betrieb stundenweise im Selbstbedienungsmodus läuft. Für die neue Direktorin zählt vor allem auch eine möglichst offene und behagliche Atmosphäre des 3. Orts, zu dem Bibliotheken geworden sind.

Im Würzburger Stadtteil Hubland steht seit 2019 so ein Wohlfühlort. Die dortige Stadtteilbibliothek sieht aus wie ein öffentliches Wohnzimmer, eingerichtet wie eine Lese-WG mit gemütliche Sofas, Wandregalen, Grünpflanzen und Kuschelecke für die Kleinen, Kühlschrank und Kaffeemaschine zur allgemeinen Nutzung inklusive. Geöffnet hat dieser Lese- und Aufenthaltsort nach dem Konzept der „Open Library“ an sieben Tagen die Woche von 7 bis 22 Uhr. Bis zu 500 Besucher wurden dort schon an Sonntagen gezählt, berichtet Flicker.

Sanierungsstau in den Essener Stadtteilbibliotheken muss behoben werden

Entwickelt wurde das Projekt mit breiter Bürgerbeteiligung im Rahmen eines Design-Thinking-Prozesses, den Flicker zusammen mit dem damaligen Würzburger Kulturreferenten Muchtar Al Ghusain angestoßen hat, heute Kulturdezernent in Essen. Wie weit das fränkische Vorbild als Blaupause für die hiesige Bibliothekslandschaft dienen kann, wird sich zeigen. Dass es in den 16 Essener Stadtteilbibliotheken einiges zu tun gibt, nicht nur im Hinblick auf Barrierefreiheit, ist ihr bewusst. Akut betroffen ist derzeit Altenessen mit einem Wasserschaden und die Zweigstelle Huttrop, für die bis Jahresende ein neuer Standort gefunden werden muss.

Die neue Direktorin weiß um den Sanierungsstau und die Sparrunden der vergangenen Jahre, die immer wieder zu Schließungsdebatten geführt haben. Das Ziel sei, „innerhalb dieser Grenzen zu sehen, was man für die einzelnen Orte erreichen kann“, gibt sich Flicker optimistisch.

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Auch in Sachen Öffnungszeiten sieht sie noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht. Erst seit Juni hat die Zentralbibliothek an der Hollestraße – zunächst für zwei Jahre – das Angebot im Rahmen von „Open Library“ auf 50 Wochenöffnungsstunden heraufgefahren und erstmals auch den Montag als Öffnungstag dazugenommen – als letzte Großstadtbibliothek in NRW. Ob künftig noch zusätzliche Zeiten möglich sind, muss sich zeigen. Dass NRW inzwischen auch grünes Licht für die Sonntagsöffnung gegeben hat, habe sie jedenfalls gefreut, zeigt sich Flicker trotz der dünnen Personaldecke zuversichtlich.

Die Diplomarbeit schrieb sie über die Funktion von Cafés in öffentlichen Bibliotheken

Die Bedeutung der dezentralen Versorgung zwischen Kettwig und Katernberg stellt die 50-Jährige dabei nicht in Frage, die Zusammenlegung einzelner Standorte würde sie nur in Ausnahmefällen diskutieren wollen. Für sie sind Bibliotheken eben der Ort, der die Bedürfnisse der Bürger nach Begegnung, Bildung und Informations-Vermittlung am besten abdeckt.

Bestärkt hat sie darin auch die Mitwirkung an dem weltweiten Stiftungsprogramm der Gates-Foundation. Während der Erfolg der Bibliotheken hierzulande vor allem an Besucherzahlen und Ausleihquoten festgemacht würde, seien es in anderen Ländern auch die einzelnen Aufstiegsgeschichten, die Erfolgsbelege liefern würden, hat Flicker beobachtet. Dass es diese Geschichten auch hierzulande gibt, davon ist die 50-Jährige überzeugt: „Wir fragen sie nur nicht ab.“

Flicker selbst war in ihrer Kindheit und Jugend Dauergast der städtischen Bibliothek. Ihre Diplomarbeit hat sie nicht von ungefähr über die Funktion von Cafés in öffentlichen Bibliotheken geschrieben. Gütersloh galt mit der Einrichtung eines ersten Lesecafés 1984 bundesweit als wegweisend. Inzwischen gehören gastronomische Angebote zwar zum Standard, leiden aber oft unter häufigen Pächterwechseln, auch in Essen. Anja Flicker hofft, dass sie neue Aufenthalts-Angebote ausbauen und verstetigen kann. Und auch als Plattform für Debattenkultur will sie die Stadtbibliothek stärker etablieren.