Essen. Die Coronakrise bringt Eltern an ihre Grenzen. Das Diakoniewerk Essen hat die Erziehungshilfe verstärkt: Kein Kind musste die Familie verlassen.

Häusliche Gewalt, vernachlässigte Kinder, Eltern am Limit – so sah das Schreckensszenario zu Beginn des coronabedingten Shutdowns aus. „Viele der von uns betreuten Familien erlebten die Schulschließungen dabei erstmal als Segen“, sagt Vesna Hellwig. Es sei für die Eltern eine Erholung gewesen, „dass der Druck von außen wegfiel, sich um Hausaufgaben und Schulerfolg der Kinder zu kümmern“, ergänzt Gabi Goralski. Die beiden sind Teamleiterinnen der Ambulanten Erzieherischen Hilfen beim Essener Diakoniewerk. Sie fügen an, dass es sich um eine so zeitweilige wie trügerische Erholung handelte.

Gut 120 Familien mit 220 Kindern werden von ihnen betreut, Familien, in denen Sucht, Schulverweigerung, Scheidungskrieg oder psychische Erkrankungen zu Hause sind. Für einige sei es hilfreich gewesen, dass sich das Leben in Coronazeiten entschleunigte, dass sie ihre Probleme mit mehr Ruhe angehen konnten.

Eine Mutter in Essen geriet in Panik, verbarrikadierte sich mit den Kindern

Andere gerieten in Panik vor Corona wie die Mutter, die die Rollläden runterließ und sich mit ihren Kindern in der Wohnung verbarrikadierte. Ein mütterlicher Schutzreflex, der den Kindern seelisch schaden könne. Mütter mit Säuglingen seien im Shutdown wiederum teils in eine völlige soziale Isolation gerutscht, weil alle Angebote von der Pekip-Gruppe bis zum Babyschwimmen plötzlich wegfielen.

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„Und jetzt merken wir verstärkt, dass es zu innerfamiliären Konflikten kommt“, sagt Vesna Hellwig. Da sind Kinder, wenn die Eltern arbeiten gehen, völlig sich selbst überlassen. Da hängen Jugendliche vor der Playstation, haben es aufgegeben, den Schulstoff zu bearbeiten – und vermissen doch die Schule, ihre Freunde.

Den einen fehle die Motivation oder ein Erwachsener, der bei den Aufgaben hilft, den anderen ein Computer, ein Laptop oder nur ein ruhiger Platz. „Eine 16-Jährige wusste nicht, wo sie arbeiten sollte, weil die Eltern den Esstisch fürs Homeoffice nutzten.“ Ihr habe man einen Tisch für ihr Zimmer besorgt, den das Mädchen mit ihrer Schwester sofort selbst aufbaute, so Goralski. So klein kann große Hilfe sein.

Kinder aus engen Wohnungen in die Notbetreuung geholt

Andernorts müsse man stärker eingreifen, etwa wo Enge zum Brutkasten für Aggression wird. Wie bei den sechs Kindern, die sich zwei Zimmer teilten, weder Balkon noch Garten zum Ausweichen hatten. Sie habe man in die Notbetreuung in Kita und Schule vermittelt. Die war anfangs ja Eltern in systemrelevanten Berufen vorbehalten, wird aber seit Wochen auch zum Kinderschutz genutzt: 200 Kinder hat das Jugendamt so untergebracht.

Ein Ortswechsel, der Eltern entlaste und den Kindern gut tue. „Anders als befürchtet, hat es in keiner Familie so geknallt, dass die Kinder nicht bleiben konnten“, sagt Gisela Strotkötter, die den Bereich Soziale Dienste beim Diakoniewerk leitet. Einigen sei es selbst gelungen, dem Corona-Koller mit Spielen und Ausflügen zu begegnen, unvermutete Ressourcen abzurufen. Anderen habe man intensiv geholfen, eine solche Tagesstruktur hinzubekommen.

Ohne Kita und Schule fehlt in vielen Familien aus das Mittagessen für die Kinder

Für viele Kinder breche ohne Kita und Schule auch das Mittagessen weg und so würden die Mahlzeiten-Lieferungen vom Jugendamt dankbar angenommen. „Die Kinder stehen am Fenster und warten auf das Essen, sie malen Bilder für die Helfer, und eine Familie schickt uns täglich ein Foto, das sie am Mittagstisch zeigt“, sagt Vesna Hellwig.

Die Angebote erreichen pro Jahr gut 6000 Menschen

170 Mitarbeiter arbeiten bei den Sozialen Diensten des Diakoniewerks Essen. Sie erreichen im Jahr gut 6000 Menschen. Das Angebot reicht von der Schwangerenberatung über die Soziale Servicestelle bis zur Jugendgerichtshilfe. Die Erziehungsberatungsstelle in Borbeck hat 2019 zum Beispiel 406 Menschen beraten.

Von der Lernförderung profitieren im Schnitt 524 Kinder an 25 Standorten, an weiteren zwei Schulen erhalten 65 Kinder Hausaufgabenhilfe. Die Schulsozialarbeit an acht Schulen erreichte 2019 fast 2500 Schüler sowie 375 Lehrkräfte/Erzieherinnen und 160 Eltern.

So sind die Ambulanten Hilfen zur Erziehung des Diakoniewerks erreichbar: 0201 2664 195 320 und (Team West) oder 0201 2664 195 310 und (Team Süd)

Es gebe eine große Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, beobachtet Gisela Strotkötter. Dazu trage auch bei, dass die Coronakrise jeden treffe, dass Überforderung derzeit kein Stigma sei. So gebe es auch Familien, die sich selbst ratsuchend ans Jugendamt wenden, ergänzt Vesna Hellwig. „Und es gibt diejenigen, die uns schon kennen, Vertrauen zu uns haben.“

Beratung per Video oder beim Spaziergang, Helferinnen machen auch Hausbesuche

Ihnen stehe man auch in Coronazeiten eng zur Seite, rufe bei einzelnen schon morgens zum Start in den Tag an und abends, um zu schauen, wie es gelaufen ist. Anderen biete man „Beratung to go“ an, spreche bei Spaziergängen über den Ärger zu Hause. „Das nehmen auch Kinder gern an, die sonst im Moment wenig rauskommen“, erzählt Gabi Goralski. Umgekehrt hätten sich zur Video-Beratung, die für Jugendliche gedacht war, auch viele Eltern gemeldet.

Wo Familien das Chaos über den Kopf wachse, wo Kinder gefährdet sind, gebe es auch jetzt Hausbesuche, betont Gisela Strotkötter. Sozialarbeit sei mit den Mitteln des Homeoffice eben nur sehr bedingt zu leisten. Sie sei daher froh, dass ihr Team bei aller berechtigter Sorge vor Ansteckung höchste Motivation zeige, extralange Arbeitszeiten inklusive. Der Krankenstand sei gering.

Jetzt werden mehr Kindeswohlgefährdungen gemeldet

Entwarnung mögen die drei Frauen nicht geben, im Gegenteil: Wenn am Montag (8. Juni) die Kitas in den Regelbetrieb gehen, endet die umfangreiche Notbetreuung, für die Kinder bleiben dann reduzierte Betreuungszeiten von 15 bis 35 Stunden. Und die Familien, die sich anfangs vom Druck der Schule befreit fühlten, müssten ihre Kinder irgendwann mit Riesendefiziten zurück in den Unterricht schicken. Ihnen müsse man in den Ferien Förderangebote machen.

Zuletzt gebe es Familien, die erst jetzt auffallen, weil Corona sie in den vergangenen Monaten an ihre Grenzen gebracht habe: sagt Gabi Goralski: „Seit zwei, drei Wochen werden mehr Kindeswohlgefährdungen gemeldet.“