Essen. . Die Mitarbeiter des Jugendnotrufs Essen erleben verängstigte Kinder und überforderte Eltern. Oft müssen sie Kleinkinder aus den Familien nehmen.
Googeln – das kann jedes Kind, und diese Fertigkeit kann sogar lebensrettend sein. Da googelt ein Kind die Nummer des Jugendnottelefons, wählt, bittet: „Helft mir, ich muss hier ‘raus.“ Raus aus einem Elternhaus, das die Hölle ist. 1476 mal hat das Jugendnottelefon im vergangenen Jahr geklingelt: Manches ließ sich telefonisch klären, doch viele Male fuhren die Mitarbeiter sofort los, folgten dem Hilferuf, ohne zu wissen, welcher Aggressions- und Alkoholpegel sie vor Ort erwartete.
„Jeder Einsatz ist eine Wundertüte“, sagt Annika Bauer. Die Sozialpädagogin arbeitet für das Diakoniewerk, das das Jugendnottelefon übernimmt, wenn die Kollegen vom Jugendamt Dienstschluss haben. Am Wochenende also oder nachts, wenn in manchen Familien der Hass aufflammt oder Drogen die Verzweiflung betäuben sollen, wenn Streit oder Schläge die Kinder wecken – oder die Nachbarn.
Manchmal klinge es gar nicht so schlimm, „und dann kommen wir in die schrecklichste Wohnung der Welt, wo etliche Kinder leben, die wir sofort in Obhut nehmen“. Stets müssen sie ja entscheiden: Kann das Kind bei den Eltern bleiben oder muss es ins Heim oder in eine Pflegefamilie gebracht werden? Reicht ein Hinweis ans Jugendamt oder ist das Kind in akuter Gefahr?
„Eine Mutter hat eine Kollegin mit dem Messer bedroht“
Man müsse schnell handeln und gleichzeitig viel abwägen, sagt Annika Bauer. Etwa, ob man die Polizei ruft: Manchmal wirke eine Uniform erst eskalierend, manchmal sei es sicherer: „Eine Kollegin ist von einer Mutter mit dem Messer bedroht worden, weil sie ein Kind mitnehmen wollte.“ Oder man betrete eine Wohnung und gerate in einen Tumult aus lauten Stimmen, Wut und unklaren Verwandtschaftsverhältnissen. „Da soll man dann klären, wer Bruder ist, wer Onkel und wer Kindsvater.“ Mit Händen und Füßen, weil nachts kein Dolmetscher verfügbar sei. Weil das Hilfsnetzwerk viel dünner sei als am Tag. Mitunter hilft nur das Gewaltmonopol des Staates: Zu einem entfesselten Clan seien mal fünf Einsatzwagen ausgerückt.
Umgekehrt bittet auch die Polizei um Amtshilfe, etwa wenn bei häuslicher Gewalt neben der Frau auch Kinder betroffen sind. 461 Anrufe der Polizei hatten sie 2017, sagt Roswitha Burchhardt, die das Jugendnottelefon beim Diakoniewerk leitet. Sie erinnere sich an das zwölf Jahre alte Mädchen, das ihre Freundin alarmierte: „Mama schlägt mich mit dem Gürtel.“ Der Vater der Freundin rief die Polizei an, die Polizei den Jugendnotruf, gemeinsam fuhr man hin.
Kinder werden vom Streit aus dem Schlaf gerissen
„Die Zwölfjährige wollte mit uns gehen, der Vater nickte“, erzählt Burchhardt. Die Mutter drehte durch, wollte sich vom Balkon stürzen. Polizisten hielten sie fest. Da sprach das Mädchen: „Dahinten schläft meine kleine Schwester, die muss mit.“ Nun weinte der Vater, verlor die Fassung. Und Roswitha Burchhardt musste die Vierjährige trösten, die aus dem Schlaf gerissen wurde, und aus ihrem Zuhause.
Stunden könne es dauern, bis man kleine Kinder gut untergebracht habe. Oder im Krankenhaus abgeklärt habe, ob ein Kind geschüttelt, geschlagen oder mit Medikamenten ruhig gestellt wurde. Wenn sie bis zum Morgen unterwegs sei, helfe es schon, wenn sie wenigstens nicht am Steuer sitzen müsse, sondern der Fahrdienst der Johanniter einspringe.
„Mir tut es weh, wenn die Kinder keine Betten haben“
Denn das sei bisher Realität: Ein Kollege, eine Kollegin fährt allein zum Einsatz, sagt Jörg Lehmann, der beim Diakoniewerk für Jugend- und Familienhilfe zuständig ist. „Vor etwa zwei Jahren haben wir erfahren, dass beim Jugendamt immer zwei fahren.“ Das sei auch sinnvoll, nicht nur weil es zu Randale kommen könne, auch weil man zu zweit besser über das Schicksal eines Kindes entscheide. Lange war das kaum möglich, weil das Diakoniewerk nur dreieinhalb Stellen für den Jugendnotruf hatte und 177 Einsätze im Jahr 2017 (2011 waren es noch 71). Umso erleichterter sind sie, dass der Jugendhilfeausschuss ihnen im Juni fünf neue Stellen bewilligt hat.
Nun können sie zu zweit losfahren, zu den großen Krisen und den stillen Katastrophen, wie Roswitha Burchhardt sie beschreibt: Wenn die Eltern fast erleichtert sind, dass ihnen mit den Kindern eine schwere Bürde genommen werde, wenn der Kühlschrank leer ist und die Achtjährige lügt: „Mama, kocht immer für uns.“ Oder wenn es für die Kinder keine Betten gebe. „Mir tut es weh, wenn sie auf einer vollgestrullten Matratze liegen, aber jeder Hund im eigenen Körbchen.“
>> JUGENDNOTTELEFON IST IMMER ERREICHBAR
Kinder und Jugendliche, die in Not geraten, können rund um die Uhr das Jugendnottelefon anrufen: 26 50 50. Melden können sich auch Eltern, Angehörige, Nachbarn. Dienst am Telefon macht tagsüber das Jugendamt, nachts und am Wochenende das Diakoniewerk.
2017 hatte das Jugendnottelefon 1476 Anrufe. Vieles lässt sich telefonisch klären, mancher Anrufer wird an andere Angebote oder Beratungsstellen weitervermittelt, in anderen Fällen handelt es sich um einen Fehlalarm. Aber immerhin 177 mal gab es eine Kriseninterventionen vor Ort.