Essen. Karsten Dahlem hat am Schauspiel Essen „Peer Gynt“ inszeniert. Ibsens Versdrama kommt sprachlich modernisiert und bezwingend gegenwärtig daher.
Als Henrik Ibsen 1867 sein Versdrama „Peer Gynt“ schrieb, konnte er von der Macht der Fake-News noch nichts wissen. Dass aber so ein notorischer Aufschneider, Lügenerzähler und talentierter Selbsterfinder weit kommen kann ohne im wahren Leben anzukommen, davon erzählt dieses Stationenstück sehr wohl. Karsten Dahlem, seit seinem grandiosen „Werther“ gewissermaßen Experte für jugendgerecht überarbeitete Klassiker, inszeniert es, extrem verdichtet, in der sprachlich stark modernisierten Übersetzung von Frank Günther. Nicht mal zwei Stunden dauert der Abend und zeigt doch, wie bezwingend gegenwärtig das Drama des norwegischen Nationaldichters sein kann, ohne sich um eine allzu vordergründige Aktualisierung zu bemühen.
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Dieser Peer will mehr: Heute ein König, morgen lieber schon Kaiser
goethes werther-boys rocken in essen goethes werther-boys rocken in essenAlexey Ekimov ist Peer, dieser hochfliegende Adrenalin-Junkie und Hochleistungs-Schwindler mit schwieriger Kindheit. Seine Mutter Aase tritt gleich mit einer Pilspulle aus der Tür als Peer seine erste wüste Lügengeschichte vom Hirsch-Ritt durchs Gebirge erzählt: „Bämmm.“ Der versoffene Vater, der den heimischen Hof heruntergewirtschaftet hat, ist gestrichen wie die Mehrzahl des männlichen Personals. Ines Krug als mütterliche Fantasie-Gefährtin Aase, Sabine Osthoff als naives Nordland-Girlie Ingrid und tolldreiste Trollprinzession sowie Silvia Weiskopf als Solveig brillieren im schnellen Wechselspiel zwischen vielen weiteren Rollen von der Beduinentochter bis zum Knopfgießer.
In Dahlems komprimierter Inszenierung bestimmen die Frauen die Geschicke dieses hochtourig um sich selbst drehenden Borderline-Burschen. „Sei du selbst“ heißt das immer wieder betonte Mantra des Stücks, doch dieser Peer will immer mehr sein. Heute ein König, morgen lieber schon Kaiser. Sein Ich ist immer wieder ein anderer.
Alexey Ekimov spielt diesen Hochstapler in Ballonseidenanzug mit ganzem Körpereinsatz und ungestümen Furor. Er ist der nölende Tunichtgut, der die verlorene Braut Ingrid vom Hochzeitsfest weg raubt und am nächsten Tag schon wieder von sich stößt. Er ist der liebende Sohn, der den Tod seiner Mutter Aase als verheißungsvolle Kutschfahrt gestaltet. Er ist der aasige Geschäftemacher, der bräsige Geld- und Fettsack und zuletzt ein ergrauter Lebensschiffbrüchiger, der im Meer der Möglichkeiten nur einen Ankerpunkt hat: die stille, fremde Solveig, der Silvia Weiskopf in Jeans und Kapuzenshirt eine moderne Weiblichkeit verleiht.
Die Live-Musik kommt von Christoph König
Es braucht nicht viel, um das Stück voranzutreiben. Franziska Sauers Bühne ist kaum mehr als eine von Holzlatten umstellte Insel – mal Bannkreis der Trolle, mal sinkendes Schiff, mal Wüstenoase, auf der die schöne Beduinentochter Anitra den gestrandeten Peer in seinen Fatsuit schnürt. Dazu sorgt der von Christoph König live mit Violine, Gitarre und anderen Instrumenten eingespielte Sound für intensive Atmosphäre. Dahlem zeigt ein Fantasiestück, das auch die Vorstellungskraft des Zuschauers herausfordert. Die vier Schauspieler sind dabei immerzu auf der Bühne, schleppen Stühle und Holzlatten, die mal eine Hütte in den Bergen andeuten, mal ein Zimmerchen im Irrenhaus sind.
Einmal Norwegen, Marokko, Ägypten und zurück
So geht es im Sauseschritt durch die Stationen. Einmal Norwegen, Marokko, Ägypten und zurück. Dass dieser Gynt ein Frauenausbeuter ist, ein Ressourcenverschwender, ein skrupelloser Großkapitalist, der selbst in höchster Not die hilfesuchende Hand vom sinkenden Boot stößt, das wird in 165 pausenlosen Minuten deutlich, ohne Gegenwartsbezüge wie Me too-Debatte und die Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer jemals konkret zu benennen.
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Wer das Original nicht kennt, wird auf diesem rasenden Ritt durch Zeit und Raum freilich auch seine Orientierungsschwierigkeiten haben. Zum Zwiebels Kern dieses zigfach gehäuteten und neu gedeuteten nordischen Faust dringt Dahlem trotzdem vor. Er zeigt einen manischen Sinnsucher von kräfteraubender Ziellosigkeit, der so lange vor sich und am Ende sogar dem Tod davon läuft, bis ihm nur Solveig den Spiegel vorhalten kann: Man kann nicht selbst sein ohne die anderen.
Langer, jubelnder Applaus für eine starke Ensembleleistung.