Essen. . So jugendgerecht sah man Goethes berühmten Roman lange nicht: Essens Schauspiel lässt für ein junges Publikum sogar die Werther-Boys rocken und verrät doch dabei nicht dieses große Stück deutscher Literatur an eine Mode-Inszenierung. Jubel für “Die Leiden des jungen Werther“.

Das Ende des jungen Ego-Monsters Werther ist schon besiegelt, da ist der Schuss noch lange nicht gefallen. Da ist Werther schon verbannt von der Bühne, raus aus dem geregelten Leben von Lotte und Albert, die wieder das erledigen, was man so macht, wenn man sich die romantischen Ideen aus dem Kopf geschlagen hat: Beziehungsarbeit! Die Band ist von der Bühne verschwunden, der Liebes-Rausch vorbei, die Wucht dahin, die diese Inszenierung bis dahin zu einem einzigen Herzrasen gemacht hat.

In Karsten Dahlems Bühnenfassung von Goethes berühmten Briefroman, die er für die Casa des Schauspiels Essen eingerichtet hat, ist Liebe kein Zustand, der bloß auf dem Papier steht, sondern ein Gefühl, das direkt ins Blut schießt und in den Bauch fährt, herzzerreißend und Trommelfell-erschütternd. Zuständig dafür sind auch die drei äußerst rustikal verkleideten Werther-Boys, die zusammen mit dem hochmusikalischen Hauptdarsteller Johann David Talinski den rhythmischen Grundton dieser schnellen Inszenierung vorgeben: extrem laut und ungemein vital. Aber nicht nur das Zielpublikum ab 15 wird an dieser Pop-tauglichen Fassung des großen Liebesromans seine helle Freude haben.

Dabei hat man Goethe kaum ins Schreibhandwerk gepfuscht. Hat bloß Teile des Briefromans gestrafft, wo es um Werthers Naturschwärmereien geht und zu knappen, manchmal auch kommentierenden Inhaltsangaben verdichtet.

Mörderische Liebesnot, ganz von heute

Dahlem will einen Werther von heute zeigen, dem man die mörderische Liebesnot gleichwohl nicht als jugendliche Flausen durchgehen lässt. Am stärksten gelingt das im offen ausgetragenen Dreier-Konflikt. Dafür hat Dahlem große Textteile auf Lotte und Albert verteilt, die in dieser Fassung eine neue Eigenständigkeit bekommen. Den wunschmalerischen Werther-Beschreibungen, in denen Liebeskonkurrent Albert wie ein braver Gedulds-Trottel dasteht, traut die Regie keinen Moment. Bei Stefan Diekmann ist Lottes Verlobter ein kaltschnäuziger Kontrahent, ein eiskalter Zyniker und Gefühls-Versehrter, der Werther nicht ungern seine Pistole leiht.

Johann David Talinskis Werther ist ganz Schwärmer, ein Gefühlskraftmeier im Dauerüberschwang, der mit flackerndem Blick und überschäumender Energie seiner Lotte (gefühls- und ausdrucksstark: Silva Weiskopf) hinterherrennt. Die vernichtende Traurigkeit, die verzweifelte Dringlichkeit seiner Einsamkeitsangst bricht erst spät durch in diesem großen Spieljungen, der die kahle, weiße Bühne (Inga Thimm) mit Torf in sein Naturparadies verwandelt und vier Pullen Pils auf Ex vernichtet, bevor er sich am Ende fast beiläufig die Kugel gibt. Niedergestreckt von zu viel Bier und zu viel Seligseinwollen. Die Werther-Boys singen noch mal von glücklicheren Zeiten. Jubelnder Applaus.