Zehn Jahre saß Burak Çopur für Essens Grüne im Rat, heute ist der promovierte Politikwissenschaftler vielgefragter Türkei-Experte. Ein Interview.
Herr Professor Çopur, Essens OB will die Einladung zum Empfang des türkischen Generalkonsuls annehmen, um dort am Dienstag „Tacheles“ zu reden. Eine richtige Entscheidung?
Ja, selbstverständlich! Es wäre sicher nicht richtig gewesen hinzugehen, um nur die Gründung der türkischen Republik zu feiern. Aber wenn er seine Kritik am Erdoğan-Regime deutlich macht und zeigt, wie sehr der türkische Angriffskrieg auch hier in Essen zu Spannungen in der Stadtgesellschaft führt, dann ist das ein wichtiges Zeichen. So wie ich den Oberbürgermeister kenne, wird er die richtigen Worte finden und Klartext reden.
Nämlich was?
Dass den türkischen Auslandsvertretungen große Verantwortung zukommt, wenn es um gesellschaftliche Konflikte in einer Stadt geht. Sie sollten nicht mit Kriegspropaganda die Stimmung weiter anheizen und versuchen, die Türkeistämmigen als Mobilisierungsmasse zu nutzen.
Zu spät: Generalkonsul Şener Cebeci hat die Militäroffensive als Kampf gegen Terroristen ausführlich gerechtfertigt.
Genau das ist ja das Problem: Die türkischen Auslandsvertretungen verstehen sich mehr denn je als der verlängerte Arm des Erdoğan-Regimes und nicht als diplomatische Ansprechpartner für alle Türken. Viele Erdoğan-Gegner meiden mittlerweile die Konsulate und Botschaften der Türkei. Es gibt zudem ein großes Netzwerk der AKP in Deutschland, dazu zählen auch die DITIB als staatliche Religionsbehörde, das Amt für Auslandstürken und nicht zu vergessen rund 6000 bezahlte AKP-Trolle, die in den sozialen Netzwerken nichts anderes machen, als die Politik des Regimes zu verbreiten, Kritiker mundtot zu machen und zu denunzieren.
„In die Moschee gehen, Ayran trinken und Kopftuch tragen ist hip“
Augenscheinlich mit Folgen...
...mit dramatischen Konsequenzen, weil es dazu führen kann, dass in der Türkei verhaftet wird, wer ein regimekritischen „Like“ setzt oder einen negativen Beitrag über den Präsidenten teilt. Türkische Lobbyarbeit hat es hier schon immer gegeben. Was sich verändert hat, ist die aggressive Art und Weise, mit der zum Teil kriminelle Rockerbanden wie die mittlerweile verbotenen Osmanen Germania oder rechtsextremistische Gruppierungen wie die Grauen Wölfe eingebunden werden.
Steckt auch ein Drohpotenzial dahinter? Nach dem Motto: Wenn Du in Essen nicht auf Linie bist, bekommst Du beim nächsten Familienbesuch in der Türkei ein Problem?
Das würde der türkische Staat im Ausland so plump nicht machen. Dafür nutzt er AKP-nahe Vereine und Organisationen, wo es auch Influencer gibt, die über Zigtausende Follower in sozialen Netzwerken ihre Anhänger mobilisieren. Diese Spaltung der türkischen Gesellschaft spiegelt sich mittlerweile nahezu 1:1 hierzulande wider. Es wäre zu kurz gedacht, diese Konflikte nur als ein Phänomen der Zuwanderung zu sehen. Der Kurden-Konflikt ist auch ein ungelöster Identitätskonflikt der Türkei.
Was meinen Sie damit?
Das Grundproblem ist das Staatsverständnis der Türkei. Bürger erster Klasse ist, wer türkisch-sunnitischer Abstammung ist und seinen islamischen Glauben demonstrativ nach außen trägt. Unter den Kemalisten war es modern, in die Oper zu gehen, Raki zu trinken und einen Hut zu tragen. Unter Erdoğan gilt heute jeder als hip, der in die Moschee geht, Ayran trinkt und Kopftuch trägt. Fast 100 Jahre nach der Staatsgründung fehlt es der Türkei immer noch an einem liberalen Demokratieverständnis, das auch Minderheiten gleichberechtigt.
„Dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, war eine Lebenslüge“
Welche Rolle kommt da einer Kommune wie Essen zu? Soll sie sich einmischen? Und wenn ja: wie?
Sie sollte es tun. Weil sie davon direkt betroffen ist, wenn solche Konflikte hier auf der Straße ausgetragen werden. Dafür braucht es vorbeugende Maßnahmen und Projekte zur Deradikalisierung. Das könnte reichen von der Jugend- und Sozialarbeit bis hin zu stadtteilorientierten Projekten für Erwachsene.
Ist das unser großes Versäumnis als Stadt: Nicht früh genug erkannt zu haben, was sich da zusammenbraut? Immerhin sind die türkischstämmigen Essener immer noch Zuwanderergruppe Nr. 1 mit fast 24.000 Menschen.
Definitiv. Wir haben die Integration verschlafen, und zwar seit den 1950er Jahren. Das rächt sich jetzt. Dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, war die Lebenslüge der Konservativen im Land. Und unsere Linken haben immer gedacht, Integration wäre Multikulti-Folklore, wo alle sich liebhaben und Halay oder Sirtaki tanzen. Was die identifikatorische Integration angeht, sind wir leider gescheitert.
„Identifikatorische Integration“, schwieriger Begriff. Sie meinen: Ich fühle mich mit Deutschland verbunden...?
Genau. Studien zeigen: 61 Prozent der Deutsch-Türken fühlen sich in erster Linie stark mit der Türkei verbunden, nur 38 Prozent mit Deutschland. Die Verbundenheit mit der Türkei nimmt seit 2010 ständig zu. Viel schlimmer aber ist: Die zweite Generation unterstützt laut Untersuchungen Erdoğan stärker als die erste. Das kann man nicht nur mit der Diskriminierung der Menschen erklären.
„Meine Solidarität hört da auf, wo die Gewalt anfängt“
Wie erklären Sie sich das sonst?
Vieles hat mit der familiären Sozialisation zu tun. Diejenigen, die nach Essen zugewandert sind, waren ja nicht die Intellektuellen und Bildungsbürger der Türkei. Die Menschen waren bildungsfern und kamen aus den ländlichen Regionen, aus Zentralanatolien, aber auch von der Schwarzmeerküste. Und das sind bis heute AKP-Hochburgen, die Leute haben ein islamisch-konservatives Weltbild, das sie konservieren und an ihre Kinder weitergeben. Türkische Massenmedien spielen natürlich auch eine Rolle.
Der Essener Generalkonsul betont: Das mit dem militärischen Gruß bei Fußballern etwa, habe man hierzulande nur falsch verstanden.
Das ist kein Missverständnis. Der Militarismus spielte in der türkischen Gesellschaft und Politik immer schon eine große Rolle. Nicht umsonst gibt es im Türkischen den Spruch: „Her Türk asker doğar“ – „Jeder Türke wird als Soldat geboren“. Dieses Denken setzt sich auch hier in der türkischen Gemeinde fort. Leitbilder wie Blut und Boden, Militarismus und Staatstreue werden in die Wiege vieler Türkeistämmigen gelegt. Da gibt es nichts falsch zu verstehen. Zumal der türkische Nationalismus im Gegenzug den kurdischen Zusammenhalt stärkt.
In der Tat sagt der Essener Ratsherr der Linken, Yilmaz Gültekin: Die Kurden waren sich noch nie so einig...
Stimmt, der türkische Angriffskrieg hat sie zusammengeschweißt. Aber dieser Zusammenhalt darf nicht zu Feindseligkeiten und blindem Hass gegenüber türkischstämmigen Menschen führen, nur weil sie einen Gemüseladen betreiben oder ein türkisches Café besitzen. Meine Solidarität hört da auf, wo die Gewalt anfängt – egal von welcher Seite sie kommt!
„Im Bemühen um Integration sollte Essen eine Vorreiterrolle übernehmen“
Dass die Integration vielerorts misslungen ist, kann doch aber nicht nur an den Deutschen gelegen haben.
Sicherlich gibt es auch Versäumnisse auf türkischer Seite. Viele haben lieber in ein Haus und Grundstück investiert als in die Ausbildung ihrer Kinder. Es ist ein Problem, dass viele türkeistämmigen Zuwanderer die Bedeutung der Bildung erst spät verstanden haben. Man fühlt sich aber auch diskriminiert und ausgegrenzt, was sich schwer von der Hand weisen lässt. Auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt haben sie es oft schwer, und die Jungen kommen oft in Diskotheken nicht rein, weil es an der Tür heißt: „Der Schwarzkopf macht Palaver.“
Und das erklärt die Zuneigung hiesiger Türken zur AKP bei den Präsidentschaftswahlen?
Natürlich ist es sehr scheinheilig, in einem der wirtschaftlich stärksten Länder der Welt zu leben, hier von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu profitieren, sich aber für eine Diktatur im eigenen Land einzusetzen, das die meisten mittlerweile ja nur noch aus dem Fernsehen oder vom Urlaub her kennen. Als überzeugter Essener schäme ich für das deutschlandweite Spitzenergebnis von über 75 Prozent für Erdoğan.
...im Wahlbezirk des Generalkonsulats Essen, zu dem auch Mülheim und der Regierungsbezirk Arnsberg gehören...
...umso wichtiger, dass Essen als große Ruhrgebietsstadt im Bemühen um Integration eine Vorreiterrolle übernimmt. Und Haltung zeigt: Eine Kommune kann da sehr viel tun. Sie kann sich zum Beispiel solidarisch erklären mit jenen drei kurdischen Oberbürgermeistern in Diyarbakır, Mardin und Van, die willkürlich abgesetzt wurden. Oder sie organisiert Partnerschaften mit Städten, die von der prokurdischen HDP geführt werden.
„Wo Scharfmacher ihre Propaganda verbreiten, müsste man dagegenhalten“
Pure Symbolpolitik, oder?
Eine äußerst wichtige Symbolpolitik. Man würde damit deutlich machen: Essen steht an der Seite der Demokratie in der Türkei und zeigt sich solidarisch.
Und Sie haben nicht den Eindruck, damit würden wir den Konflikt eher noch anheizen?
Vielleicht, aber wie anders sollte das sonst mit der internationalen Solidarität für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit funktionieren? Städte dürfen sich hier nicht wegducken. Es ist ja im Übrigen auch kein rein türkisch-kurdischer Konflikt, der hier auf den Straßen ausgetragen wird, sondern auch ein deutscher, weil wir ihn durch Waffenlieferungen an die Türkei anheizen. Wir sind also mitverantwortlich.
Was sollten wir für die Menschen hier tun, um ein weiteres Auseinanderdriften zu verhindern?
Wir können von Essen aus keine Weltpolitik betreiben, wir können aber vorbeugend gegensteuern, und Essen sollte mit gutem Beispiel vorangehen. Warum also nicht bundesweit mit einem Masterplan zur Deradikalisierung und Prävention für innerethnische Konflikte unter Migranten glänzen?
Aber wie sollte eine solche Zwangsbeglückung denn aussehen?
In den sozialen Netzwerken, da wo die Musik spielt, weil sich Menschen radikalisieren, könnte man eine aufsuchende Online-Arbeit als Projekt in die Wege leiten. Wo türkische Rechtsextreme und Scharfmacher ihre Propaganda verbreiten, müsste man dagegenhalten und aufklären. Da dürfen wir nicht kleckern, sondern müssen klotzen und in die politische Bildung investieren– auch in der Schule.
„Der türkische Nationalismus wirkt wie ein Gift für das Miteinander“
Wie das?
Indem man zum Beispiel Politik- und Geschichts-Unterricht ganz neu denkt. So könnten zum Beispiel der Kurden-Konflikt oder der Völkermord an den Armeniern verbindlich im Lehrplan verankert werden.
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Damit die Klopperei schon auf dem Schulhof losgeht?
Dazu braucht es natürlich interkulturell geschulte Lehrkräfte, die sich fachlich mit den Themen sehr gut auskennen und sensibel mit diesen Konflikten umgehen.
Klingt alles nach einer Generationenaufgabe.
Das Problem werden wir sicher nicht von heute auf morgen lösen, aber wir müssen jetzt damit anfangen und vorbeugend gegensteuern. Der türkische Nationalismus gepaart mit dem Islamismus ist nämlich das Grundproblem für ein friedliches Zusammenleben, er wirkt wie ein Gift für das Miteinander der Menschen auch hier in Essen.
Im Kurden-Konflikt gibt es jetzt eine Lösung, so sehr diese auch den Kurden selbst missfällt. Kehrt auch hier damit wieder Ruhe ein?
Vermutlich wird das russisch-türkische Abkommen die Situation in Deutschland etwas herunterkühlen. Der völkerrechtswidrige türkische Angriffskrieg ist wohl erst einmal zu Ende, der zugrundeliegende Konflikt schwelt aber weiter. Und die Menschen hier bleiben auch die gleichen. Es wäre dringend notwendig, was zu unternehmen, damit wir beim nächsten Mal nicht das gleiche Gespräch von vorne führen.