Wann kann ein Kind nicht bei seinen Eltern bleiben, weil die gewalttätig oder überfordert sind? Familienrichter Michael Schütz im Gespräch.

Sie greifen tief in das Privatleben der Bürger ein: Familienrichter befassen sich mit Scheidungen, Sorgerecht, Unterhaltsfragen – und Kindeswohl: Sie entscheiden, ob ein Kind bei den leiblichen Eltern bleibt oder in Obhut genommen wird. Viel zu lange dauerten die Entscheidungen, klagt der Essener Kinderschutzbund: Monate- oder jahrelange Ungewissheit sei für die Kinder fatal. Familienrichter Michael Schütz erklärt im Gespräch mit Christina Wandt, wie die Beschlüsse zustande kommen, die über Kinderschicksale entscheiden.

Kann man Familienrecht in der Ausbildung lernen, Herr Schütz?

Das Juristische schon, aber das Menschliche spielt ja eine große Rolle. Bei uns im Ruhrpott würde man sagen: Es geht ans Eingemachte. Darauf wird man kaum vorbereitet, die menschliche Seite hat man – oder man hat sie nicht. Man muss mit den Leuten reden, empathisch sein. Als Familienrichter kann man gestalten, Perspektiven für Eltern und Kind aufzeigen; das macht mir Freude. Ich versuche immer, die Akzeptanz der Betroffenen zu gewinnen.

Die Inobhutnahme soll das letzte Mittel sein

Das dürfte nicht immer leicht sein, wenn das Jugendamt ein Kind aus der Familie genommen hat...

Bis das geschieht, müssen aber erst alle Hilfsangebote ausgeschöpft sein. Es sei denn, ein Kind wird zum Beispiel massiv misshandelt, dann kann das Jugendamt sofort eingreifen und es in einem Heim oder einer Bereitschaftspflegefamilie unterbringen. Da handelt das Jugendamt quasi wie die Polizei, um eine akute Gefahr abzuwenden. Diese Entscheidung muss jedoch von der Judikative, also vom Familiengericht, überprüft werden. Wir werden sofort informiert und setzen binnen einen Monats einen Termin an.

Laut Kinderschutzbund sind Kinder oft monatelang in Pflegefamilien, bevor die Sache vor Gericht geht.

Einige Eltern stimmen zu, dass das Kind vorübergehend in eine Bereitschaftspflegefamilie kommt. Sie vereinbaren mit dem Jugendamt, in dieser Zeit den Haushalt in Ordnung zu bringen, ihre Mietschulden zu begleichen oder eine Therapie zu beginnen. Drei bis sechs Monate später schaut man, ob etwas passiert ist und das Kind zurück kann. Ist die Lage aber unverändert, schlägt das Jugendamt meist vor, das Kind dauerhaft in einer Pflegefamilie unterzubringen. An dem Punkt sagen die Eltern oft Nein. Nun ist schon ein halbes Jahr vergangen – und die Sache landet bei uns.

Die Familie steht unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes

Wieso nimmt sich das Gericht viel Zeit für den Beschluss, obwohl das Jugendamt das Versagen der Eltern oft über Jahre dokumentiert hat?

Das Familiengericht muss letztlich entscheiden, ob Kinder außerhalb ihrer Familie aufwachsen – jedoch­ nur als letztes Mittel: Die Familie steht unter besonderem Schutz des Grundgesetzes. Also müssen neben dem Jugendamt auch die Eltern Gehör finden und ein Verfahrensbeistand, der die Interessen des Kindes vertritt. Aus pädagogischer Sicht ist eine lange Verfahrensdauer sicher nicht günstig, aber es geht schließlich um einen existenziellen Eingriff in das Leben der Familien.

Wie groß ist die Einsicht der Eltern, dass etwas schief läuft?

Es gibt Fälle von schweren Alkohol- oder Drogenmissbrauch, da erscheinen die Eltern häufig nicht oder in desolatem Zustand vor Gericht. Aber auch diese Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Sie wollen ihr Erziehungsversagen nicht sehen, geben­ anderen die Schuld. Wenn ich den Eindruck habe, das geht so nicht, versuche ich, sie für die Fremdunterbringung zu gewinnen. Stimmen sie zu, regelt das Jugendamt das weitere.

Eltern machen andere für ihr Scheitern verantwortlich

Was geschieht, wenn Eltern der Unterbringung nicht zustimmen?

Das ist der häufigere Fall, da sagen die Eltern: „Das Jugendamt stellt das falsch dar“ oder „Nächste Woche ist wieder alles in Ordnung.“ Da geht es um pädagogische oder psychologische Fragen, die ich als Jurist nicht beantworten kann. Also beauftrage ich einen Sachverständigen, die Erziehungseignung zu beurteilen. Er spricht mit den Beteiligten, beobachtet ihr Verhalten untereinander. Für sein Gutachten hat er maximal vier Monate. Dann setzen wir den zweiten Termin an, bei dem wieder Ladungsfristen zu beachten sind. Kurz: Bis der Termin gelaufen ist und ich den Beschluss abgefasst habe, vergeht ein halbes Jahr. Im besten Fall.

Und wenn es nicht optimal läuft?

Gibt es Verzögerungen, weil der Gutachter noch nicht jeden Beteiligten gesehen hat, weil Termine verlegt werden… So können auch schon mal neun Monate bis zur erstinstanzlichen Entscheidung vergehen – und gegen die können die Eltern noch Rechtsmittel einlegen.

Die zweite Instanz in Familiensachen ist das Oberlandesgericht in Hamm, das macht sich ein persönliches Bild, hört alle Beteiligten… Da vergehen leicht sechs Monate, manchmal ein Jahr bis zu einem Beschluss. Theoretisch könnten die Eltern noch vor den Bundesgerichtshof ziehen oder eine Verfassungsbeschwerde einlegen.

Es geht nicht darum, wo das Kind die „optimale“ Erziehung genießt

Obwohl das Kind nun seit einem Jahr oder länger bei Pflegeeltern lebt und bestens aufgehoben ist.

Man muss hier vielleicht einmal klarstellen, dass wir nicht darüber entscheiden, wo das Kind die optimale Erziehung genießt und die beste Förderung erhält. Es hat ein Recht, in seiner Ursprungsfamilie aufzuwachsen, und ich beantworte nur die Frage: Ist das noch vertretbar.

Haben Sie das schon mal falsch eingeschätzt?

Es ist natürlich besonders schlimm, wenn sich eine getroffene Entscheidung im Nachhinein als Fehlentscheidung erweist. Das kann ich als Mensch leider nicht ausschließen. Es handelt sich immer um Abwägungsentscheidungen und die weitere Entwicklung kann man nicht immer sicher vorhersehen. In schwierigen Fällen berate ich mich mit Kollegen, aber entscheiden muss man allein. Die emotionale Belastung ist hoch – man legt den Kittel abends nicht einfach so ab.