Essen. Trotz der akuten Lehrstellenkrise raten Experten der Essener Arbeitsagentur Jugendlichen mit einem relativ guten mittleren Schulabschluss davon ab, weiter zur Schule zu gehen statt eine Lehrstelle zu suchen. Die Essener Berufsschulen werden derzeit regelrecht von Schulabgängern überrannt.
Trotz der akuten Lehrstellenkrise raten die Arbeitsmarktexperten der Essener Arbeitsagentur Jugendlichen mit einem relativ guten mittleren Schulabschluss davon ab, weiter zur Schule zu gehen statt eine Lehrstelle zu suchen.
„Viele denken angesichts der kritischen Wirtschaftslage, es sei besser mit dem Berufseinstieg zu warten und noch ein paar Runden in einer Schule zu drehen. Doch diese Einstellung ist falsch: Man findet mit einem guten Realschulabschluss eher eine Lehrstelle als mit einem schlechten Fachabitur”, sagt Andrea Demler, operative Geschäftsführerin der Arbeitsagentur Essen.
Zunehmender Andrang auf Vollzeit-Schulgänge
Viele hätten sich wegen der Berichte über den Mangel an Lehrstellen verunsichern lassen. „Doch jemand mit einem guten Abschluss hätte selbst in diesem Jahr seine Lehrstelle sicher gehabt“, zeigt sich Demler überzeugt. Es sei falsch, einen Jugendlichen mit eher praktischen Fähigkeiten auf einen langen theoretischen Weg zu schicken. „Da geht nur Zeit verloren.”
Hintergrund ihrer warnenden Äußerungen ist die Entwicklung in diesem Jahr: Sogenannte Berufskollegs, Schulen mit einer Mischung aus Berufsschule und Vollzeitschule mit Abitur-Möglichkeit, wurden von eigentlich ausbildungsfähigen jugendlichen Schulabgängern regelrecht überrannt, um sich vollzeitschulisch besser zu qualifizieren. „Das hat eine enorme Gruppendynamik in den Klassen entfaltet: Wenn meine Freundin weiter zur Schule geht, dann mache ich das auch, hieß es”, ist die Erfahrung von Demler.
Friedhelm Glunz, stellv. Leiter des städtischen Berufskollegs Mitte, erlebt seit Jahren einen zunehmenden Andrang auf Vollzeit-Schulgänge von Jugendlichen mit Abschluss.
Genau prüfen
Eltern und Kinder stehen während der Schullaufbahn und beim Einstieg in die Arbeitswelt vor vielen schwierigen Entscheidungen, bis der Nachwuchs endlich einigermaßen sicher im Berufsleben angekommen ist.
Dabei gibt es viele Fehleinschätzungen, weil man die komplexe Arbeitswelt mit ihren gebrochenen Karrieren nicht mehr überblicken kann. Deshalb sind Hinweise von Praktikern so wertvoll: Auch wenn immer mehr Betriebe nach theoretisch gut ausgebildeten Leuten rufen, funktioniert die Gleichung „Mehr Schule gleich höherer Abschluss gleich besserer Arbeitsplatz“ nicht bei jedem. Manchem wird der Berufseinstieg sogar erschwert. Jeder Jugendliche mit Schulabschluss sollte daher genau prüfen, ob er wirklich theoretisch so begabt ist, dass weitere Schulrunden ihn reizen - und nicht in sinnlosen Warteschleifen enden.
„Wir müssen viele interessierte Jugendliche ablehnen, weil unsere Kapazitäten begrenzt sind. Allein unsere Warteliste umfasst hundert Jugendliche”, sagt Glunz. Handelsschulen hätten sogar Aufnahmetest eingeführt. Zwar forderten Betriebe zunehmend höhere Qualifikationen, mindestens den Abschluss 10b, doch überschätze sich so mancher Jugendliche, der auf dem Weg zur Fachhochschulreife dann vor allem in Mathematik große Probleme habe. „Wenn jemand eine Lehrstellen-Zusage hat und weiter zur Schule gehen will, rate ich ihm immer zur Lehrstelle.”
Zehn Prozent weniger Lehrlings-Verträge
Seit Jahren kritisierte NRW-DGB-Chef Guntram Schneider die Zunahme an Jugendlichen in Vollzeit-Klassen der Berufskollegs und Handelsschulen - für ihn ein Beweis, dass die Arbeitgeber ihrer Verantwortung, Jugendliche beruflich auszubilden, nicht genügend nachkommen. „Mindestens 30 000 Jugendliche in NRW befinden sich in schulischen Warteschleifen”, schimpft Schneider.
Nach den Zahlen der Arbeitsagentur Essen sind in diesem Jahr tatsächlich mit 4000 über zehn Prozent weniger Lehrlings-Verträge geschlossen worden als vor einem Jahr. An offenen Lehrstellen wurden der Arbeitsagentur sogar 17 Prozent weniger gemeldet.
Noch im September gab es drei Mal so viele Bewerber als offene Ausbildungsplätze. In einer Kraftanstrengung mit der Handels- und Handwerkskammern konnte die Agentur bis auf 50 noch viele hundert Jugendliche nachvermitteln. Doch im nächsten Jahr droht nach Planungen der Unternehmen ein weiterer Einbruch an angebotenen Lehrstellen.