Essen. Der siebenjährige Abdullah hat einen Bombenangriff in Syrien schwer verletzt überlebt. Nun lebt er mit seiner Familie in einem Zeltdorf in Essen.

Zeltdorf – das ist die teuerste und zugleich rustikalste Unterkunft, die Essen Flüchtlingen zu bieten hat. Doch Hajem Al Saleh (53) würde nie klagen über die wenigen Quadratmeter, die er mit seiner Familie an der Hamburger Straße in Frohnhausen bewohnt. Zeltdorf – das ist für die Al Salehs aus Syrien eine Zuflucht. Hier kann ihr sieben Jahre alter Sohn Abdullah aufatmen.

Hajem Al Saleh und seine Frau Nassra (48) haben eine große Familie, elfköpfig sei sie. Die erwachsenen Kinder flohen schon vor einiger Zeit nach Deutschland, die Eltern blieben mit den Kleinen in Syrien. „Wir hatten ein wunderbares Leben.“ Der Vater war Lehrer, Schuldirektor, hatte ein Auto, ein Haus in seinem Heimatdorf und eine Wohnung in der nahen Stadt Deir ez-Zor, die etwa 125 Kilometer von der irakischen Grenze entfernt ist.

Noch näher lag der Flughafen, von dem immer mehr Maschinen aufstiegen, um Bomben abzuwerfen: „Unsere Regierung hat unser Dorf angegriffen.“ Al Saleh beschreibt den Wahnsinn in knappen Worten: „Flugzeuge am Himmel, der IS am Boden.“ Er fragt: „Wer rechnet damit, dass im Krieg ausgerechnet Zivilisten bombardiert werden?“ Ausgerechnet sein Sohn.

Vor zweieinhalb Monaten in Deutschland angekommen

Abdullah habe am Haus seines Onkels gespielt, mit anderen Kindern, als wieder ein Flugzeug kam, das Haus bombardierte und die spielenden Kinder traf. Sechs starben sofort. „Sie sind abgeschlachtet worden“, sagt Al Saleh. Der Übersetzer hat Tränen in den Augen, schüttelt den Kopf: „Ich habe selbst Kinder, ich kann nichts mehr sagen.“ Aber Abdullahs Körper, sein Gesicht erzählen von den schweren Verbrennungen, die das Kind erlitt.

Wer dem Siebenjährigen begegnet, muss nicht fragen, warum sich Familie Al Saleh auf die Flucht begeben hat. Zwei Monate in einem Lager in der Türkei ausharrte, sich mit 70 Leuten in ein Schlauchboot zwängte, das für 30 zugelassen war. Das Boot schaukelte, die Kinder weinten, alle hatten Angst. Aber längst war keine Gefahr mehr so groß, wie die zu Hause in Syrien zu bleiben. Als sie auf Samos landeten, klatschten die Flüchtlinge im Boot.

Vor zweieinhalb Monaten kamen Hajem und Nassra Al Saleh mit den Söhnen Abdullah und Ali (10) in Deutschland an, seit gut drei Wochen sind sie im Zeltdorf an der Hamburger Straße. Abdullah hält sich nah bei seinen Eltern, aber er lächelt Fremde an, zählt auf Deutsch, stolz von 1 bis 20. Sein Vater kämpft noch mit der Sprache, aber er hofft auf eine Zukunft in diesem Land, lobt die Unterkunft. „Hier ist alles gut und sauber!“ Er danke Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem deutschen Volk – und Nader Soltani.

Ein Dorf und 380 Schicksale

Soltani hat eine dieser bemerkenswerten Karrieren gemacht, die mit der Flüchtlingskrise möglich wurden, vor allem bei European Homecare (EHC). Die Essener Firma betreibt viele Flüchtlingsunterkünfte und stellt gern Menschen ein, deren Eltern, Großeltern selbst zugewandert sind. Soltani wuchs in Dorsten auf, hat International Management studiert und Künstler betreut. Vor zehn Monaten hat er als Sozialbetreuer bei EHC angeheuert, jetzt leitet er dieses Zeltdorf mit 380 Bewohnern. Soltani ist 25 und er sagt, sein früherer Job war schwieriger: „Künstler sind speziell.“

Den Wunsch, die Essenszeiten im Zeltdorf flexibel zu gestalten, findet Soltani nicht speziell. Im Mensa-Zelt herrscht um halb elf Gedränge, und wenn der Junge, der Nutella auf ein Fladenbrot schmiert, noch länger brauche, sei das kein Problem, auch wenn um zwölf das Mittagessen beginnt. Soltani hat in einigen Zeltdörfern gearbeitet, hier laufe es sehr harmonisch. Was nicht selbstverständlich ist, wo fast 400 Menschen aus dem Irak, Iran, aus Syrien oder Afghanistan auf engem Raum zusammenleben. Es hilft, dass die Sanitärcontainer an die Wohnzelte gedockt sind, so dass niemand durch den Regen zur Toilette gehen muss. Es hilft, dass gegenüber ein Spielplatz liegt. Und dass sich 200 Ehrenamtliche gemeldet haben für Sprachkurse, Sport, Museumsbesuche. Soltani und sein Team könnten das nicht stemmen. Sie besorgen Spielzeug fürs Gemeinschaftszelt, besänftigen Lärm geplagte Anwohner; und als wir eintreffen, rufen sie gerade einen Krankenwagen: Ein Mann klagt über Herzprobleme.

Sie vergessen Abdullah nicht, von dem seine Mutter sagt, er stehe noch unter Schock: „Er kann sich nicht akzeptieren, wie er ist.“ Soltani hat die Spezialisten der Uni-Klinik angesprochen, er hofft, dass die plastische Chirurgie Abdullah weiter helfen kann. „Er ist ein starker Junge.“ Da saust er vorbei: Abdullah, sieben Jahre, auf einem Fahrrad, sorglos. Im Zeltdorf fallen keine Bomben.