Essen. Nour Bakdalieh und ihr Ehemann Mohammed Dakdouka sind mit zwei kleinen Kindern von Syrien nach Deutschland geflohen. Nun hoffen sie auf eine Zukunft in Essen.

Frau Bakdalieh, sind Sie dem Ruf von Angela Merkel nach Deutschland gefolgt?

Nour Bakdalieh: Aber nein, lange kannten wir nicht mal den Namen der Bundeskanzlerin. Wir hatten jedoch Freunde und Verwandte, die lange vor uns aus Syrien geflohen und nach Bielefeld, Köln, Dortmund oder Essen gegangen waren. Da ist eine richtige kleine syrische Community entstanden.

Und der wollten Sie sich anschließen, als in Syrien der Bürgerkrieg begann?

Bakdalieh: Der Krieg ist ja schon vor fünf Jahren ausgebrochen, und wir wollten das Land lange Zeit gar nicht verlassen. Wir haben in der Hauptstadt Damaskus in einem Haus gelebt, mein Mann war dort Beamter, ich bin Physiklehrerin.

Wegzugehen, hieß also, viel aufgeben zu müssen?

Bakdalieh: Ja, und außerdem glaubten wir lange, dass dieser Krieg rasch wieder enden werde. Anfangs konnten wir unser Leben auch so fortsetzen wie früher, doch dann wurde die Lage immer gefährlicher. Wir konnten unsere beiden kleinen Söhne nicht mehr draußen spielen lassen.

Nour Bakdalieh (31) ist Physiklehrerin, ihr Ehemann Mohammed Dakdouka (37) war in Syrien Beamter. Sohn Rayan ist fünfeinhalb Jahre alt, sein Bruder Adam ist vier. Die Familie lebte in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Foto: Christof Köpsel / Funke Foto Services
Nour Bakdalieh (31) ist Physiklehrerin, ihr Ehemann Mohammed Dakdouka (37) war in Syrien Beamter. Sohn Rayan ist fünfeinhalb Jahre alt, sein Bruder Adam ist vier. Die Familie lebte in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Foto: Christof Köpsel / Funke Foto Services © Funke Foto Services

Also entschlossen Sie sich im vergangenen Herbst doch zur Flucht – und wählten Deutschland als Ziel.

Bakdalieh: Im Laufe des Krieges hatten wir eben auch von Angela Merkel gehört. Im Ernst: Unsere Bekannten sagten, die Menschen hier seien nett zu ihnen. Wir gingen auch davon aus, dass es das einzige Land sei, in dem wir Arbeit finden würden.

Eine vage Hoffnung, für die Sie Ihr Haus und Ihre Verwandten zurückließen und sich auf eine gefährliche Flucht begaben.

Bakdalieh: Unser Haus gab es da schon nicht mehr, es ist vor einem Jahr zerbombt worden – zum Glück waren wir nicht zu Hause, sondern bei der Familie. Meine Eltern und die meines Mannes sind übrigens in Damaskus geblieben, sie wollen auch jetzt nicht herkommen. Aber sie sind sehr froh, dass wir gut in Deutschland angekommen sind.

Ihre Söhne sind vier und fünf Jahre alt. Wie haben Sie die Flucht mit zwei kleinen Kindern bewältigt?

Bakdalieh: Im Flugzeug, zu Fuß, im Boot, im Bus und im Zug. Fast ohne Gepäck, nur mit dem, was wir anhatten.

Das dürfte nur die Kurzfassung sein, verlief alles so reibungslos?

Bakdalieh: Die erste Etappe bis in die Türkei haben wir mit Bus und Flugzeug zurückgelegt, gefährlich war dann die Überfahrt nach Griechenland. Wir waren 35 Erwachsene und sieben Kinder auf einem Schlauchboot. Wir hatten nur eine kleine Tasche mit Medikamenten bei uns, aber alle anderen Taschen wurden sowieso aus dem Boot geworfen. Wir trugen Schwimmwesten, trotzdem hatte ich solche Angst! Mein Mann ist der einzige aus unserer Familie, der schwimmen kann...

Mohammed Dakdouka (ergänzt): ...und ich hatte Angst um meine Familie...

Bakdalieh: ...alle auf dem Boot fürchteten sich, zumal wir zwischendurch den richtigen Kurs verloren hatten, aber es gab keine Panik. Zum Glück haben die Kinder während der gesamten vier Stunden geschlafen. Es war ja Nacht.

Wussten Ihre Familien in Syrien von der gefährlichen Überfahrt?

Bakdalieh: Nein, wir haben ihnen absichtlich nicht gesagt, wann wir an Bord gehen, um sie nicht zu beunruhigen. Wir haben uns erst wieder gemeldet, als wir auf der griechischen Insel Kalymnos gelandet waren.

Lief von da an alles glatt?

Bakdalieh: Erstmal ja: Wir wurden in einem Hotel untergebracht und bekamen nach fünf Tagen ein Fährticket. Von Athen aus ging es weiter Richtung Mazedonien, teils mit dem Bus, aber auch lange Strecken zu Fuß. Da waren eine Menge Menschen aus Syrien und dem Irak unterwegs. Mitten in der Nacht haben wir uns verlaufen, die Kinder wurden müde und weinten. Wir waren selbst erschöpft, unsere Söhne haben wir getragen.

Ihre strapaziöse Flucht sollte vom 26. September bis zum 14. Oktober 2015 dauern. Haben Sie in diesen knapp drei Wochen nie an Ihrem Vorhaben gezweifelt?

Flüchtlingskrise: Zwölf Interviews, zwölf Blickwinkel

Bislang veröffentlichte Folgen unserer Interviewserie zur Flüchtlingskrise in Essen. Weitere Interviews folgen.

Bakdalieh: Wir haben uns ja wegen unserer Kinder auf die Flucht begeben, weil wir auf ein sicheres Leben für sie hoffen. Das hat uns immer vorangetrieben, durch Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich bis nach Deutschland. In jedem Land haben wir neue Telefonkarten gekauft, um uns zu Hause melden zu können. In Serbien gab es ein paar neue Kleidungsstücke. Unfreundlich waren die Leute nur in Ungarn, vor allem die Polizei. In München wurden wir dagegen freundlich empfangen.

Warum blieben Sie nicht in Bayern?

Bakdalieh: Wir wollten nach Nordrhein-Westfalen, weil wir hier schon viele Leute kannten. Also haben wir uns in einen Zug nach Bielefeld gesetzt und haben uns nach unserer Ankunft dort bei der Polizei gemeldet. Die hat uns in eine frühere Schule in Schöppingen gebracht.

Wie waren Sie dort untergebracht?

Bakdalieh: Wir haben uns mit einer anderen Familie ein Klassenzimmer geteilt, und es war dort furchtbar schmutzig. Nach neun Tagen sollten wir nach Essen verlegt werden, und wir freuten uns, weil alle erzählten, dort solle alles sehr gut sein.

Dann kamen Sie ins Zeltdorf an der Planckstraße...

Bakdalieh: ...und es war schlimmer als Schöppingen. Der Raum für unsere Familie war eng und nur mit einem Vorhang abgetrennt. Es gab keine Fenster im Zelt, die Waschräume waren dreckig, die Heizung war mal zu kalt und mal zu heiß. Das Essen gab’s in Styroporbehältern mit Plastikdeckel. Und im Zelt lebten Menschen aus Syrien, Mazedonien oder Afrika, da gab es Lärm und Streit, ob man das Licht an- oder ausmacht. Wir waren schon enttäuscht.

Hatten Sie vielleicht zu hohe Erwartungen?

Bakdalieh: Wir waren tatsächlich traurig über die Unterbringung: Unser kleiner Sohn Adam konnte wegen der Heizung im Zelt nicht richtig atmen. Wir gingen zum Arzt, der uns einen Inhalator gab, aber das schaffte ja keine wirkliche Abhilfe. Ich wollte da nur ‘raus.

Aber Sie waren doch in Sicherheit.

Bakdalieh: Wir hatten uns Deutschland einfach anders vorgestellt. Trotzdem waren wir erleichtert. Wir haben den Frieden gefühlt! Wir hörten keine Flugzeuge mehr, keine Bomben.

Hat Ihnen Deutschland auch ein freundliches Gesicht gezeigt, wie es die Bundeskanzlerin einmal formuliert hat?

Bakdalieh: Ja, wir hatten großes Glück: Es gab nette Leute im Zeltdorf, Mitarbeiter und Ehrenamtliche. Die Caritas hat geholfen und vor allem Uschi vom Rüttenscheider Bewegungsraum, der einen Treffpunkt für Mütter und Kinder aus dem Zeltdorf anbietet; das hat sehr gut getan. Uschi ist unglaublich nett, sie will jedem helfen. Für uns ist sie wie eine Mutter!

Welche Erfahrungen haben Sie mit den Behörden gemacht?

Meist gute. Wir mussten zum Beispiel nicht lange auf unsere Papiere warten, und unser Deutschkurs hat jetzt im April begonnen. Im Jobcenter haben wir einmal eine unfreundliche Mitarbeiterin erlebt, die fragte, was wir eigentlich hier wollten.

Und: Was wollen Sie hier?

Bakdalieh: Wir sind für unsere kleinen Söhne hergekommen und hoffen, dass sie hier eine Zukunft finden. Wir vermissen unsere Eltern, telefonieren jeden Tag mit ihnen; aber angesichts der schwierigen Lage raten wir niemanden, jetzt nach Europa zu kommen. Unser Traum wäre, hier eines Tages ein Leben zu führen, wie wir es vor dem Krieg in Syrien hatte. Ich würde gern als Lehrerin arbeiten, mein Mann als Mechaniker. Aber wir müssen bei Null anfangen und erstmal gut Deutsch lernen.

Ein Zuhause haben Sie ja schon, hat Ihnen da die Stadt geholfen?

Bakdalieh: Nein, der Vermieter kam ins Zeltdorf und fragte die Leitung, ob es eine Familie gebe, die in eine Wohnung in Altenessen ziehen möchte. So waren wir am Ende nur sechs Wochen im Zelt!

Und sind Sie hier zufrieden?

Bakdalieh: Es fehlen noch ein paar Möbel, aber wir fühlen uns wohl. Wenn ich Bekannte im Zeltdorf besuche, wollen meine Söhne nicht mit, sie wollen nie mehr dorthin. Hier in Altenessen gibt es arabische Geschäfte, wir können kochen – und das wichtigste: Adam und Rayan gehen in den Kindergarten.

Dann lernen die beiden ja jetzt im Handumdrehen Deutsch.

Bakdalieh: Trotzdem waren sie am ersten Tag ein bisschen enttäuscht: Sie hatten erwartet, Schreiben zu lernen.

Im Kindergarten?

Bakdalieh: In Syrien lernen schon Dreijährige Schreiben.

Bei uns dürfen so kleine Kinder einfach Kinder sein.

Bakdalieh: Das gilt für Adam und Rayan ja ganz besonders: Sie sind in Syrien oft von den Bomben wach geworden, waren verängstigt und haben geweint. Hier schlafen sie fest und haben den Krieg schon vergessen.