Duisburg-Rheinhausen. Zwei Mütter aus der Ukraine sind nach Kriegsbeginn mit ihren Kindern bis nach Rheinhausen geflohen. Die erschütternde Geschichte einer Flucht.

Um 6.30 Uhr klingelt bei Svetlana Panat das Telefon. Ihre Kinder schlafen da noch. Nichtsahnend nimmt sie ab, hört die Stimme ihrer Mutter: „Die Stadt wird angegriffen.“ Panat ist zu diesem Zeitpunkt in ihrer Heimat im ukrainischen Lviv, ihre Mutter hunderte Kilometer entfernt in Dnipropetrowsk. Das war vor rund vier Wochen. Am 24. Februar, als Putin seinen Angriffskrieg auf die Ukraine startete. „Damit hat zu dieser Zeit wirklich niemand gerechnet“, sagt Panat heute.

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Sie streckt ihr Gesicht Richtung Sonne. Die Temperaturen kratzen an diesem Montagnachmittag in Rheinhausen an der 20-Grad-Marke. Hier im Garten von Uljana Kugler sind sie und ihre zwei Söhne Illja und Dyma, 15 und acht Jahre alt, sicher. Sicher vor den Angriffen, vor dem bis heute nicht vergessenen Lärm der Flugzeuge, Bomben und Schüsse.

Kriegsbeginn in der Ukraine: „Als ob man sich permanent im Kreis dreht“

Auch Nataliia Maksymenko erhielt an jenem Tag einen Anruf. Es war ihre Chefin, die Schuldirektorin an der Grundschule, an der Maksymenko unterrichtet. Die Lehrerin aus Irpin nahe der ukrainischen Hauptstadt Kyiv habe es nicht wahrhaben wollen, erzählt sie. „Schon eine Woche vorher herrschte in der Schule Unruhe“, erinnert sie sich. Sie spricht gefasst, schildert das Erlebte auf Ukrainisch. Uljana Kugler, die selber aus der Ukraine stammt, übersetzt ins Deutsche.

„Da sollten die Schüler auf Empfehlung schon kleine Rucksäcke vorbereiten, Namen und Blutgruppen in die Kleidung nähen.“ Nach dem Anruf brach das Chaos los. Die Lehrerinnen und Lehrer tauschten sich umgehend aus: Was machen wir? Wir informieren wir? „Ein Zustand, als ob man sich permanent im Kreis dreht.“ Auch Maksymenkos Kinder, zwei Töchter, lagen zu diesem Zeitpunkt noch in den Betten. „Die haben zunächst überhaupt nicht verstanden, was eigentlich los ist.“

Ukraine-Krieg: Tägliche Flucht in den Keller

Beide Mütter, die sich erst später hier in Rheinhausen kennengelernt haben, suchten mit ihren Familien Schutz in Kellern. Nataliia Maksymenko im eigenen Haus, Svetlana Panat in der nahe gelegenen Schule. „Die waren dort aber absolut nicht vorbereitet“, lässt auch sie übersetzen. Bewohner ganzer Wohnblöcke seien dahin gestürmt, wann immer die Sirenen heulten. Sicher war der Schulkeller aber nicht. „Teilweise sind Leute eingedrungen und haben geschossen.“

Eine Luftaufnahme vom 21. März aus Irpin, nahe der ukrainischen Hauptstadt. Nataliia Maksymenko ist von hier bis nach Duisburg geflohen.
Eine Luftaufnahme vom 21. März aus Irpin, nahe der ukrainischen Hauptstadt. Nataliia Maksymenko ist von hier bis nach Duisburg geflohen. © dpa | Uncredited

Im Wohngebiet von Maksymenko gab es keine Sirenen. Es waren die Kriegsgeräusche, die sie und ihre Familie eine Woche lang alarmierten. Wann immer Schusswaffen und Flugzeuge zu hören waren, eilten sie in den viel zu kalten Keller. Sie schliefen nur noch komplett angezogen, um im Fall der Fälle startklar zu sein. „Die Geräusche der Bomben und Flugzeuge haben uns so unfassbare Angst gemacht“, sagt Maksymenko. „Die kann man einfach nicht ertragen.“ Eine Woche verging. Eine Woche, in der beide Mütter und die Familien ständig zwischen Wohnraum und Keller wechselten. Als das Nachbarhaus von Maksymenko getroffen wurde, stand für sie fest: „Wir müssen hier weg!“

Von der Ukraine bis nach Duisburg: Drei Tage mit dem Zug unterwegs

„In Panik“ schnappte sie die wichtigsten Sachen, die Kinder und – rannte los. Unter Beschuss liefen sie zum Bahnhof, um mit dem Zug die Stadt zu verlassen. Es war die letzte Möglichkeit. „Jetzt verstehe ich erst, was das eigentlich für ein Risiko war“, ist sie sich heute bewusst. In diesem Moment habe sie nur funktioniert. Ihr Mann begleitete sie bis zur Hauptstadt, kehrte dann zurück zu seiner Mutter. Aktuell ist er wieder in Kyiv, wie zahlreiche andere Männer darf er das Land nicht verlassen. „Ich gehe davon aus, dass in Irpin nun niemand mehr ist“, sagt Maksymenko. Mit dem Zug gelang ihr und ihren Kindern die Flucht über Polen bis nach Berlin.

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Drei lange Tage waren sie unterwegs – „Der Zug war komplett überfüllt, man kam sich vor wie in einer Konservendose.“ Auf polnischem Gebiet stand er einen ganzen Tag lang. Warum, das wissen sie bis heute nicht. In Berlin nahmen Freunde aus Duisburg sie in Empfang. Zeit, den Kindern zu erklären, was da gerade passiert, blieb beiden Müttern nicht. „In diesem Moment griff einfach nur der Selbstschutzinstinkt.“ Svetlana Panat floh zehn Tage nach Kriegsbeginn mit ihrer Familie in einem Bus. Über Polen und Jena erreichten sie schließlich Rheinhausen und kamen bei Uljana Kugler unter. Sie kennen sich seit Jahren. Schon damals, als Putin 2014 die Krim besetzte, lernten beide sich kennen. Kugler sammelte in Duisburg Hilfsgüter, Panat verteilte diese in der Ukraine.

Ukraine-Geflüchtete besuchen in Rheinhausen die Schule

Trotz der Sicherheit, die beide nun in Rheinhausen spüren, bleibt die Angst ihr ständiger Begleiter. Sie haben alles zurückgelassen, die Häuser, das komplette Hab und Gut, aber vor allem: ihre Ehemänner, Freunde und Verwandte, die noch immer in der Ukraine sind. Kontakt bestehe, über Chats und die Nachrichten fließen laufend Informationen über den erschütternden Krieg. „Es ist nicht möglich zu sagen, ich schalte jetzt ab“, erklären sie.

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Hier in Duisburg fanden sie schnell Anschluss. Panats ältester Sohn besucht aktuell das Krupp-Gymnasium, sie selbst hilft in einer Grundschule in der Küche. Maksymenko unterrichtet morgens ein paar Stunden ukrainische Kinder – ihre älteste Tochter Sofiia (17) studierte bereits in der Ukraine. Ob sie hier weiter studieren kann, ist noch ungewiss. „Es ist großartig, dass sie hier eine Beschäftigung haben“, sagt Uljana Kugler. Es seien eben jene Kontakte und Aufgaben, die für ein bisschen Normalität im Leben der Ukrainer sorgen.

Geflüchtete in Duisburg: „Wir wollen keinen Sieg“

Und was denken die Mütter über Putin? Svetlana Panat senkt den Blick. Der Name scheint viel in ihr auszulösen. Maksymenko ergreift das Wort. „Wir wollen uns nicht in politische Ebenen vertiefen“, übersetzt Kugler. „Wir wollen auch keinen ‘Sieg’. Wir wollen einfach Frieden.“ Jeder Tote sei einer zu viel, im Krieg könne es keine Sieger geben. Die zahlreichen Friedens- und Solidaritätsaktionen in Duisburg, Deutschland, Europa und der Welt beobachten beide mit Freude. Eine „gewaltige Unterstützung auf Augenhöhe“ seien diese Bilder. „Es ist ein großartiges Gefühl, mit offenen Armen aufgenommen zu werden.“

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  • Uljana Kugler, die im Bodelschwingh-Haus in Bergheim arbeitet, ist begeistert von der Solidarität und der Unterstützung, die seit Kriegsbeginn zu spüren sei. „Meine Arbeitskollegen, die Bewohner und Besucher haben mich so sehr unterstützt“, sagt sie. „Die haben eine Kiste mit meinem Namen aufgestellt und uns finanziell unterstützt.“
  • Auch dem OSC-Fitnessstudio „Sportwelt Rheinhausen“ dankt Kugler außerordentlich. Maksymenkos Tochter Sofiia ist sportbegeistert, hier kann sie seither kostenlos rund um die Uhr trainieren. Ein befreundeter Lehrer hat seine Unterstützung für Sprachkurse angeboten. „Ich bin einfach unfassbar dankbar“, sagt Kugler. „Sachspenden sind super, noch wichtiger ist es aber, die Menschen zu integrieren. Das ist auch für uns eine Entlastung.“