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Heute ist die Loveparade einen Monat her. Wie fühlen sich die, die an dem Tag vor Ort waren? Die nur gucken und feiern wollten. Viele kämpfen gegen ihr schlechtes Gewissen, obwohl sie nicht im Tunnel waren. Fünf Menschen erzählen ihre Geschichte.

Erst auf seinem Computer zuhause hat Sascha Treese entdeckt, was er mit seinem Handy eigentlich aufgenommen hatte. Auf den Fotos am Bildschirm waren die vielen Menschen plötzlich nicht mehr nur eine Masse, in den meisten Gesichtern sah er Panik, nun im Großformat. Menschen, die in ihrer Todesangst Wege aus der Masse gesucht und gefunden haben. Die auf Container und Treppen gestiegen sind, um nicht zerquetscht zu werden.

2500 Menschen gedachten der 21 Opfer Ende Juli mit einem Trauermarsch. Foto: WAZ FotoPool
2500 Menschen gedachten der 21 Opfer Ende Juli mit einem Trauermarsch. Foto: WAZ FotoPool © WAZ FotoPool

Bei der Loveparade selbst hatte Sascha Treese davon nichts mitbekommen. Er war als DJ auf einem der Floats und zum Zeitpunkt der Katastrophe knapp einen Kilometer Luftlinie vom Unglücksort entfernt. „Ich habe erst per SMS erfahren, was passiert ist“, sagt Treese. Lange hat er es dann nicht mehr auf dem Wagen ausgehalten, die gute Laune vom Nachmittag war weg. Schlagartig.

Zusammen mit seiner Freundin hat er intensiv die Berichterstattung in den Medien verfolgt – und nachgedacht: „Ich will nicht sagen, dass ich ein schlechtes Gewissen hatte, aber mulmig war mir irgendwie schon. Es war das Gefühl, dass wir Spaß hatten und nur wenige Meter neben uns Menschen gestorben sind.“

Bereits eine Woche später war Treese auf der nächsten Großveranstaltung, dem elektronischen Tanzfestival „Nature One“. „Ich kann ja jetzt nicht jedem Veranstalter einen Strick aus der Loveparade-Tragödie drehen“, sagt der Mendener. „Andere Veranstalter haben andere Sicherheitskonzepte – und ich bin überzeugt davon, dass sie ihr Bestes geben.“ Mit weißen Luftballons, die von einem Campingplatz aus in die Luft gestiegen sind, haben die Teilnehmer der Nature One der 21 Duisburger Opfer gedacht. Es sei ein „zusammenschweißendes Erlebnis“ gewesen – „leider Gottes.“ Aber das Leben müsse weitergehen.

Mann ohne Schuhe - das Bild geht nicht mehr aus dem Kopf

Die offizielle Trauerfeier für die Opfer der Loveparade wurde auch in die MSV-Arena übertragen. Entgegen den Erwartungen waren nur 2500 Menschen gekommen. Foto: WAZ FotoPool
Die offizielle Trauerfeier für die Opfer der Loveparade wurde auch in die MSV-Arena übertragen. Entgegen den Erwartungen waren nur 2500 Menschen gekommen. Foto: WAZ FotoPool © WAZ FotoPool

Viele Tränen, Selbstvorwürfe und schreckliche Bilder im Kopf - so ging für Hanna H.* das Leben nach dem 24. Juli weiter. Gemeinsam mit Freunden war sie nach Duisburg gekommen, sie hatten etwas getrödelt und waren deshalb noch gar nicht im Tunnel, als die ersten Menschen starben. „Da kam uns aber ein junger Mann ohne Schuhe entgegen, der von seinen Kumpels gestützt werden musste“, erzählt Hanna H. Ein anderes Mädchen, das aus dem Tunnel kam, sei völlig verdreckt gewesen. Noch aber habe sie sich dabei wenig gedacht, eher gemutmaßt, dass so manch einer zu viel getrunken oder bereits wild gefeiert habe. Erst als die 28-Jährige sah, dass Sanitäter einen Mann zum Krankenwagen trugen, wurde sie stutzig. Ein Polizist, den Hanna H. gefragt hatte, murmelte nur vage etwas von einer Massenpanik. Erst als sie ihre Mutter anrief, erfuhr sie von den zehn Toten.

„Und als mir meine Mutter dann auch noch erzählt hat, dass viele Menschen im Gedränge ihre Schuhe verloren haben sollen, fiel mir der Typ wieder ein, den ich gesehen hatte“, sagt Hanna H. Seitdem plagten sie ein schlechtes Gewissen und die Frage, warum sie nicht geholfen habe, nicht mal einen Schluck Wasser angeboten habe. Freunde versuchten sie in den Tagen danach immer wieder zu beruhigen und wiesen vorsichtig darauf hin, dass sie zu dem Zeitpunkt, als die verstörten Menschen aus dem Tunnel kamen, ja noch gar nichts von dem Unglück wusste.

Doch das war längst nicht alles: „Ich hatte auch immer mehr ein schlechtes Gewissen, weil ich mich eben schlecht gefühlt habe, obwohl ich gar nicht im Tunnel war, also die wirklich schlimmen Szenen gar nicht gesehen habe“, sagt Hanna H. Hinzu kamen quälende Fragen wie: Hätten wir uns beschützen können, wenn wir im Tunnel gewesen wären? Wie hätte ich mich gefühlt, wenn ich einen Freund hätte wiederbeleben müssen? Wie hätte sich ihre Mutter gefühlt, wenn Hanna H. sie nicht zufällig direkt nach der Massenpanik angerufen hätte, sondern erst Stunden später? Und: Warum hatten wir das verdammte Glück, nicht im Tunnel gewesen zu sein? Hanna H. glaubt, dass es Schicksal war und ihre Zeit einfach noch nicht gekommen sei. „Daher werde ich in Zukunft auch auf weitere Großveranstaltungen gehen, denn passieren kann mir theoretisch jeden Tag etwas.“

Dieser Tunnel war der einzige Zugang zum Geländes des alten Duisburger Güterbahnhofs. Foto: ddp
Dieser Tunnel war der einzige Zugang zum Geländes des alten Duisburger Güterbahnhofs. Foto: ddp © ddp/Sascha Schuermann

Mittlerweile haben ihre Selbstvorwürfe nachgelassen, gleichzeitig ist ihr Elan, ein „besserer Mensch“ zu werden, gestiegen. In ihrer nächsten Urlaubswoche will Hanna H. Blut spenden: „Vorher habe ich mir kaum Gedanken darüber gemacht, wie ich anderen Menschen helfen kann, auch wenn gerade kein konkreter Anlass besteht. Das will ich nun ändern.“

Erster Anruf galt der Oma

Wie Hanna H. hat auch Semir Bouguerra das Gelände des alten Duisburger Güterbahnhofs am Tag der Loveparade gar nicht erst erreicht. Seine Anreise endete aber nicht wenige Meter vor dem Tunnel, sondern bereits am Düsseldorfer Hauptbahnhof. Eine weitere Gemeinsamkeit mit Hanna H.: Auch Semir Bouguerra trödelte am Samstagnachmittag, wollte eigentlich schon viel früher zur Loveparade. „Nachdem wir dann mit einem Sonderzug in Düsseldorf angekommen waren, wurden wir durch einen Hintereingang nach draußen geführt“, erzählt Bouguerra. „Und da gab es wahrhaftig Menschen, die sagten: Egal, auch wenn ein paar Leute gestorben sind, wir fahren trotzdem hin.“ Er selbst rief sofort seine Oma an, der er am Morgen erzählt hatte, dass er nach Duisburg wollte.

Bis zur Trauerfeier am Samstag nach der Tragödie verfolgte Bouguerra die Berichterstattung intensiv, auf Großveranstaltungen will er künftig, schon aus beruflichen Gründen, wieder gehen. „Aber man wird sicherlich die Lage anders checken“, sagt der 28-Jährige, der in der Sportvermarktung tätig ist. Bislang sei er davon ausgegangen, dass in Deutschland solche Veranstaltungen „doppelt und dreifach“ abgesichert seien und nichts schief gehe. Läuft er in Zukunft noch durch einen Tunnel, wenn es der einzige Zugang zu einem Veranstaltungsgelände ist? Bouguerra zögert einen Moment: „Das kann ich nicht sagen.“

Party, um nicht an die Folgen zu denken

Ein DerWesten-Nutzer, der unter dem Pseudonym djghostrider schreibt, würde dagegen nicht nur auf weitere Großveranstaltungen gehen, sondern auch auf eine neue Loveparade, wenn es denn eine geben würde. Seine Lebensgefährtin ist entsetzt. „In Berlin, Essen und Dortmund hat es doch auch geklappt“, verteidigt sich djghostrider. „Und ich würde eben gerne wenigstens eine richtige Loveparade miterleben.“ Er hält die Katastrophe für ein „unglückliches Unglück“, das frühestens wieder in 20 Jahren passiere.

Über die Massenpanik und ihre Folgen denkt djghostrider, der ein paar Stunden auf dem Gelände verbrachte, wenig nach. Zwar habe er am Abend des 24. Juli schon ein schlechtes Gewissen gehabt, weil er nicht viel helfen konnte: „Aber wir haben uns dann mit anderen Leuten in der Stadt auf eine Bank gesetzt und ein bisschen Party gemacht, damit wir nicht soviel über das Unglück nachdenken mussten.“

Eine schreckliche Prophezeiung

Uwe van Ooy war im Tunnel, etwa eine Viertelstunde, bevor die ersten Menschen zu Boden gingen und starben. Er selbst hatte Glück, konnten mit seinen Freunden den Tunnel über eine schmale Rampe rechtzeitig verlassen. Auf dem Gelände oben haben sie in den Tunnel geblickt und mit angesehen, wie die ersten Besucher verarztet wurden. „Ich habe mir noch nichts dabei gedacht“, sagt van Ooy. „Bin erstmal von Drogenleichen ausgegangen.“ Erst am nächsten Morgen habe er den tatsächlichen Grund erfahren, am Abend war die Gruppe noch in einer Kneipe. Gebannt verfolgte Uwe van Ooy in den Tagen nach der Katastrophe die Berichterstattung und versuchte sein Gewissen zu beruhigen, weil er am Abend ja noch weitergefeiert hatte.

Seine Frau sei indes vor Angst fast gestorben, erzählt der 40-Jährige, weil sie ihn am Unglücks-Abend zunächst nicht erreichen konnte, und habe sich sogar schon überlegt, wie sie dem dreijährigen Sohn behutsam beibringe, dass der Papa nicht mehr nach Hause komme. Denn sie war nicht mitgekommen zur Loveparade und sei bereits mittags aus der Stadt geflohen. Als sie auf dem Weg zum Bahnhof die Massen gesehen habe, habe sie einen Weinkrampf bekommen und prohezeit: „Hier passiert heute noch was.“

*Name von der Redaktion geändert