Duisburg. . Früher einmal war die Charlottenstraße ein Ausflugsziel mit bürgerlichem Lokal. Heute mischt sich das Rotlicht-Milieu mit alteingesessenen Bewohnern. Das Haus Nummer 77, das vor allem von Rumänen und Bulgaren bewohnt wird, bringt zusätzliche Probleme. Bordellbesitzer klagen über Umsatzrückgang.

Hunderte zerkaute Sonnenblumenkerne liegen auf dem Bürgersteig. Ein Tross Männer, vor allem Rumänen und Bulgaren, hocken auf den Treppen vor dem Haus an der Charlottenstraße 77. Gegenüber stehen ein paar Bandidos auf der Straße. Es ist früher Abend. Kinder spielen Fußball, in den angrenzenden Bordellen ist noch nicht viel los. Es ist viele Jahrzehnte her, dass die Straße im Schatten des Stadtwerke-Turms einmal gutbürgerlich war. In den 60er Jahren haben sich die ersten Etablissements niedergelassen, sie siedelten über von der anderen Seite der Altstadt. Seitdem, so der Eindruck der letzten verbliebenen Nachbarn, hat sich die Straße negativ verändert.

„Bar Heike“ eröffnet 1973

„Früher war die Unterstraße der Treffpunkt für Freier und Prostituierte“, erzählt Harald Molder von der Zeitzeugenbörse Duisburg. Er recherchiert gerade für ein neues Buch über Hochfeld. An der Charlottenstraße gab es sogar ein gefragtes Ausflugslokal, in das die Bürger an den Wochenenden einkehrten. Eine Recherche im Stadtarchiv zeigt aber auch, dass die Geschichte der Prostitution in der Altstadt schon auf das 19.Jahrhundert zurückgeht. Die Sittenpolizei überwachte damals das Geschäft im Rotlicht-Milieu, das als „Charakteristikum einer Hafenstadt“ geduldet wurde.

Über städtische Erlasse sollten die Damen dennoch verdrängt werden. Es gab dutzende Anordnungen zum so genannten „Dirnenwesen“. Nach der Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert schuf eine neue Strafgesetzgebung den Rahmen für eine Handhabe gegen unsittliches Verhalten. Die Duisburger Polizei erhöhte den Druck durch eine verstärkte Präsenz, teils ermittelten die Beamten in zivil.

Vermehrte Beschwerden der Anwohner

Seit den 50er Jahren mehrten sich die Beschwerden der Anwohner in der Altstadt über das Gebaren der Damen und Herren. Bei einem Treffen mit der Stadt wurde den Nachbarn allerdings verdeutlicht, dass die Stadt an der Situation nichts ändern könne. Erste Überlegungen zur Schaffung eines eigenen „Rotlichtviertels“ nach dem Vorbild des Hannoveraner Steintorviertels wurden erstmals 1959 angestellt. Dazu trat man sogar in Kontakt mit der Stadt Hannover. Durch systematische Umlegungen sollten die Inhaber zur Aufgabe ihrer Betriebe in Innenstadtnähe gezwungen werden.

Von der Charlottenstraße als Ausweichgebiet war da allerdings nicht die Rede. Anhand der Duisburger Adressbücher konnte jedoch der Zeitraum ermittelt werden, in dem dort erste „einschlägige“ Bars und Clubs eröffneten. Ab dem Jahr 1973 findet sich zunächst eine Bar, die „Bar Heike“ Später kamen weitere Clubs und eine Videothek für Erwachsene hinzu. Auffällig ist die Ballung der Etablissements bei den Hausnummern Charlottenstraße 80 bis 84 – dies könnte ein Hinweis für eine systematische Ansiedlung in den vergangenen Jahrzehnten sein. Über den Bordellen haben aber immer auch Familien gewohnt. „Wir hatten hier einen guten Zusammenhalt“, erinnert sich Helga Schmidt (Name geändert), die 1981 zur Charlottenstraße zog. Erst mit den Jahren ging’s bergab. Das Umfeld habe sich immer mehr verschlechtert.

„Boom“ in den 2000er Jahren

Einen „Boom“ als Rotlicht-Viertel erlebte die Charlottenstraße erst in den frühen 2000er Jahren. Im Jahr 2008 berichtete die „Neue Ruhr Zeitung“: „Strukturwandel einmal anders. Das Rotlicht-Milieu investiert kräftig.“ Zahlreiche Clubs siedelten sich an. Inzwischen soll sogar das größte Bordell der Region in Duisburg angesiedelt sein. Mitte 2013 zählten die Laufhäuser rund 430 Zimmer.

Für viele Bürger sind die Charlotten- und Vulkanstraße ein Angstraum. Zusätzliche Probleme gibt es, seitdem aus dem Wohnhaus Nummer 77 eine Bleibe vor allem für Bulgaren und Rumänen wurde. Die Polizei fährt regelmäßig Streife, die Stadt schickt das Ordnungsamt vorbei und kontrolliert. „Statistisch kann man das nicht bestätigen, dass hier viel Kriminalität herrscht“, erklärt der Bezirksbeamte Michael Werzinger, der für die Altstadt zuständig ist. Er vermutet allerdings, dass die Dunkelziffer beträchtlich ist: „Welcher Mann, der ins Bordell geht, zeigt schon gerne ein Raubdelikt an. Er müsste sich ja zu Hause wahrscheinlich rechtfertigen.“

55 Quadratmeter für Vater, Mutter und elf Kinder 

Über den Balkonen hängen Bettdecken. Die Mülltonnen laufen über. Vor dem Haus hocken ein paar Männer auf der Treppe, mit den Augen „scannen“ sie, wer vorbeikommt. Passanten werden kritisch beäugt. 146 Personen sind an der Adresse Charlottenstraße 77 gemeldet, darunter 90 minderjährige Jungen und Mädchen. Die Wohnungen sind oftmal nicht mehr als ein Bettenlager. „Meine Frau, meine elf Kinder und ich wohnen auf 55 Quadratmetern“, erzählt ein Mann. Die meisten Bewohner gehörten zu einem Clan. Die Jungen und Mädchen würden auch deshalb auf der Straße spielen, weil drinnen kaum Platz ist. Die Miete werde von Barisics Leuten samt Quittung direkt kassiert.

Städtische Task-Force im Einsatz

Der Stadt ist das Gebäude als „Problem-Haus“ bekannt. Die städtische Task-Force, bestehend aus Ordnungsamt und Sozialamt, werde sich kümmern, verspricht Stadtsprecherin Susanne Stölting. „Allerdings war erst einmal In den Peschen dran.“ Die Mitarbeiter der Taskforce kontrollieren auch, ob beispielsweise die Kinder zur Schule gehen.

Der Hausbesitzer ist kein Unbekannter. Branko Barisic vermietet auch die Wohnung der Häuser In den Peschen und ist Besitzer des „Sexpalace.“ „Ich kenne die Vorwürfe der Nachbarn“, erklärt er auf Nachfrage der WAZ – und bestätigt, dass auch in seinem Club sich die Kunden von den Rumänen und Bulgaren auf der Straße gestört fühlen. Es sei nie sein Ansinnen gewesen, die Wohnungen an diese Klientel zu vermieten. Das habe eine Hausverwaltung in den vergangenen Monaten für ihn übernommen.

„Im August will ich den Mietern nach und nach kündigen“, kündigt Barisic an. Er sei von der guten Lage des Eckhauses in unmittelbarer Nachbarschaft der Marientor-Kreuzung überzeugt und wolle das Haus sanieren. Anschließend sollen die Wohnungen an Einzelpersonen vermietet werden. Dies könnten auch Prostituierte sein. Barisic hofft, dass sich sein Gewerbe und das der Mitbewerber auf der Charlottenstraße dann wieder stabilisiert.

Die Rotlicht-Szene klagt über Umsatzrückgang 

Früher, da war hier alles besser“, sagt Gina Marie Henze. „Früher“ ist noch gar nicht so lange her. Seit acht Jahren betreibt Henze einen Club an der Charlottenstraße. „Ginas Bi-Treff“ heißt der Swingerclub. Das Etablissement ist eher klein. Gina Marie steht an der Bar, hier werden an den Party-Tagen die Kontakte geknüpft. „Es gab kaum einen Treffpunkt für Herren, die auf beide Geschlechter stehen“, erzählt die Betreiberin, die früher einmal bei einem Rechtsanwalt im Büro arbeitete. Vor acht Jahren wurde dann aus ihr Gina Marie.

Kinder betteln auf der Straße

Masken hängen an der Wand, zudem erotische Poster. Frauen haben freien Eintritt, Männer zahlen 40 Euro – aber dafür gibt’s mittwochs auch noch eine Massage gratis. An guten Abenden kommen bis zu 20 Gäste, um sich auf den Spielwiesen auszutoben. In besseren Zeiten nahmen die Männer eine weite Fahrt auf sich. Aber seitdem das Haus gegenüber an Roma vermietet wurde, geht der Umsatz zurück. „Die Kinder spielen nachts auf der Straße, die Erwachsenen lungern rum und spucken ihre Sonnenblumenkerne auf die Straße.“ Wer ein diskretes Geschäft betreibt, will keine Zuschauer. „Die Kunden trauen sich nicht mehr rein und fahren vorbei.“ Sie habe schon die Öffnungszeiten reduziert, weil es sich unter der Woche kaum noch lohne, den Club zu öffnen. Ein Bekannter hilft manchmal aus und beschützt sie in den Abendstunden.

Auch der Mitarbeiter des Sex-Kinos nebenan klagt über Umsatzrückgang. „Es kommen bestimmt 50 Prozent weniger Kunden. Ich hab’ ja nix gegen Kinder. Aber die sind frech und betteln jeden an, der zu uns hinein will.“

Werkstattbesitzer Ibrahim Atli, direkter Nachbar des Roma-Hauses, hat nun selbst gehandelt. Gemeinsam mit Branko Barisic bezahlt er eine 400-Euro-Kraft, die jeden Morgen die Straße kehrt. „Die Stadt kümmert sich ja nicht. Und abends ist es wieder genauso schmutzig.“ Seitdem sich die Charlottenstraße so negativ entwickelt, bleiben auch bei ihm die Kunden weg. „Ich würde ja wegziehen, aber es ist schwierig, ein entsprechend großes Gelände zu finden. Wir werden von der Stadt allein gelassen“, klagt Atli.

Helga Schmidt wohnt seit 1981 über dem Sex-Kino: Viele ziehen weg 

An den Klingelschildern stehen kaum noch Namen. „Die ziehen alle weg, seitdem die Bulgaren und Rumänen hier wohnen“, erzählt Hilde Müller (Name geändert). Vor einigen Jahren, da hätten sich die Nachbarn gut verstanden. „Hier haben Türken, Polen, Deutsche gewohnt. Alle korrekt, freundlich und sauber.“ Doch die Bulgaren und Rumänen hätten keinen Anstand, bölkten bis tief in die Nacht. Einmal, da hat die 78-Jährige die Polizei gerufen. Einen Tag später war ihr Kellerfenster zerstört und aufgebrochen. Seitdem sagt sie nichts mehr.

„Die Kinder betteln, wenn man auf die Straße geht.“ Hilde Müller, selbst gehbehindert, erledigt ihre Einkäufe nur noch in Begleitung. Sie will bleiben. „Ich bin sechs Mal in meinem Leben umgezogen, das kostet ja alles Geld.“ Den nächsten Umzug macht sie erst, wenn sie in ein Heim muss. Zu allem Übel liegt ihr Wohnzimmer zur Straße hin. Und wenn sie um 22 Uhr schlafen möchte, drehen die zugewanderten Nachbarn erst richtig auf. „Wenn ich aus dem Fenster schaue, könnte ich Bücher schreiben, was sie hier alles sehen. Zum Beispiel, wie die Kinder die Freier beklauen – ohne, dass sie es merken.“

Helga Schmidt (Name geändert) und Perserkater Klaus wohnen ein Haus weiter, über dem Sex-Kino. Sie ist die Letzte in dem Gebäude. Die Klingel ist zerstört, im Flur liegt Müll. Der Vermieter hatte auch an Bulgaren und Rumänen vermietet. Nebenan gibt’s noch eine Wohnung, die von einer Prostituierten genutzt wird. Die findet ihre Kundschaft im Kino. Mit dem Milieu hatte Helga Schmidt noch nie Probleme.

Der Bezirksbeamte Michael Werzinger ist Ansprechpartner für alle 

„Na, haste dir neue Schuhe geklaut?“ Der Bezirksbeamte Michael Werzinger lacht breit und gibt dem Bewohner des Roma-Hauses an der Charlottenstraße 77 die Hand. „Die Schuhe hab’ ich gekauft, 20 Euro“, versichert der und zeigt auf die Markentreter. Es ist zehn Uhr morgens, Werzinger dreht seine Runde durch die Charlottenstraße. Seit zwölf Jahren ist die Altstadt sein Revier. Er kennt seine Pappenheimer, weiß, wer in all den Jahren weiter abgerutscht ist. „Nicht jeder Beamte passt in diesen Bezirk“, weiß der 54-Jährige. Er ist der Ansprechpartner für alle: Obdachlose, zugewanderte Rumänen und Bulgaren, Prostituierte oder die Grundschulkinder, mit denen er für die Fahrradprüfung lernt.

Mit 16 Jahren ist er zur Polizei gekommen, die Alternative wäre das Finanzamt gewesen. „Der Slogan war damals: ,Bei der Polizei können Sie Hubschrauber fliegen, Motorrad oder Porsche fahren. Kein Tag ist wie der andere’“, erinnert sich der Hauptkommissar. Im Polizei-Porsche saß er nie, auf dem Krad nur für den Führerschein – aber kein Tag ist wie der andere. Bevor sich der Handball-Bundesligatrainer in den Bezirksdienst versetzen ließ, hat er als Mitglied der Hundertschaft Demonstrationen gesichert oder war in Stadien unterwegs. Nun dreht er alle zwei Tage seine Runde durch die Altstadt. Kontrolliert im Kant-Park, ist Ansprechpartner für die Sorgen der Bürger in der Innenstadt.

An der Charlottenstraße, Hausnummer 77, ist immer etwas zu tun. Er hat einige „Vorgänge“ in der Tasche, Adress- oder Halter-Ermittlungen beispielsweise. Eigentlich sei es ja Sache der Post, die Briefe zuzustellen. Doch die Bewohner haben ihre Familiennamen über die abgerissenen Briefkästen gekritzelt. Niemand weiß, ob die Personen, die hier gemeldet sind, auch tatsächlich noch hier wohnen. Kann die Post nicht zugestellt werden, landet sie irgendwann bei Werzinger auf der City-Wache – und der überbringt sie persönlich.

Kauderwelsch aus Englisch und Deutsch

Mit den Rumänen und Bulgaren spricht der Hauptkommissar ein Kauderwelsch aus Englisch und Deutsch. Manchmal sind Kinder in der Nähe, die bittet er dann, zu übersetzen. Oft sind es schlechte Botschaften, die er dabei hat. Neulich sollte er einen Jugendlichen in Dauerarrest schicken. Der Junge sei in Urlaub, versicherte daraufhin der Vater. Zwei Wochen später übergab der Erwachsene seinen Filius dann persönlich. Die Hausbewohner haben zu dem Beamten mittlerweile Vertrauen gefasst. „Ich kann konsequent sein, aber ich behandel’ jeden wie einen Menschen.“ So stellt Werzinger nicht nur Haftbefehle zu, sondern übersetzt offizielle Briefe vom Amt – oder hilft bei der Beantwortung. „Das mach’ ich für die Obdachlosen am Kuhtor auch. Ich bin noch Freund und Helfer.“ Die meisten haben sogar seine Handynummer. So wie die Dame, die ihn vor kurzem anrief und bat, einmal nach ihrer Freundin, einer Bewohnerin der Charlottenstraße 73, zu schauen. Die ältere Frau habe Angst und traue sich nicht mehr raus, weil die Kinder so garstig zu ihr gewesen seien. Werzinger hörte zu und bot an, ihr sogar beim Umzug zu helfen, wenn sie es nicht mehr aushalte. „Ich hab’ einen guten Draht zur Diakonie und zur Not tapezier’ ich auch selbst.“

Der Bezirksbeamte kennt die Gemengelage an der Charlottenstraße. Er hört sich alle Seiten an: Die Beschwerden von den Nachbarn, die Klagen der Bordellbetreiber und die Sorgen der Roma. An den Problemen ändern könne er nichts, dafür sei die Politik zuständig. Er weiß, dass für viele Duisburger die Charlotten- und die Vulkanstraße ein Angstraum sind. Als Polizist hat er keine Angst. Aber: „Nach Einbruch der Dunkelheit gehe ich hier alleine nicht mehr hin.“ Trotzdem möchte Werzinger um nichts in der Welt den Bezirk tauschen – er hat Gefallen am prallen Leben gefunden.