Essen. Gerechtigkeit für Menschenkinder: Das war immer das große Thema von Dr. Jürgen Thiesbonenkamp. Jetzt geht der evangelische Theologe nach elf Jahren an der Spitze der Kindernothilfe in den Ruhestand.

Nach Indien würde er demnächst gerne mal reisen, sagt Jürgen Thiesbonenkamp (65). Oder auch nach Ägypten, um dort mal die Pyramiden zu sehen. Denn in den vergangenen elf Jahren hat der Vorstandsvorsitzende der „Kindernothilfe e.V.“ in Kairo nur pyramidenhohe Deponien von Müll und darin wühlende Menschenkinder gesehen. Oder in Indien hat er extremes Elend zwischen Bahngleisen links und stinkend-staubigen Schnellstraßen rechts erlebt. Von der Geschichte oder der Kultur der vielen Länder, in die ihn seine Mission für das international agierende christliche Kinderhilfswerk geführt hat, hat er immer unterwegs zwischen Elend und Hilfe, kaum etwas mitbekommen.

Das soll jetzt aber anders werden. Der evangelische Pfarrer aus Duisburg-Rheinhausen und Nachfolger von Nikolaus Schneider im Amt des Superintendenten des Kirchenkreises Moers, geht Ende des Monats Juni in den Ruhestand. Dann hat 65-Jährige mehr Zeit für sich und seine Familie.

Ob aber der engagierte wie sehr geachtete Kirchenmann tatsächlich loslässt, oder aber, ob er von seiner Umgebung losgelassen wird, in die persönliche Freiheit des Ruhestandes, darf bezweifelt werden. Zu sehr steckt er mit seinem ganzen Herzen noch in der Mission, für die die große, deutsche Nichtregierungsorganisation für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe steht.

Ohne Armut, Elend und Gewalt

Vor 55 Jahren wurde sie in Duisburg gegründet. Seit 2003 wird sie von dem Pfarrer aus Rheinhausen geführt. Heute ist sie mit tausend Hilfsprojekten in 29 Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas unterwegs und stärkt geschätzte 1,5 Millionen Kinder in ihrem Recht auf Leben, auf Identität, auf Unversehrtheit, auf ein Heim, auf Würde. Dies ist der Kern der Kindernothilfe, sagt Thiesbonenkamp, „Mädchen und Jungen ein dauerhaftes menschenwürdiges Leben zu ermöglichen - ohne Armut, Elend und Gewalt.“

Damals, als die Kindernothilfe gegründet wurde, hat sie mit Hilfs-Projekten in Südindien begonnen. Gefolgt sind 28 neue, traurige Koordinaten der Armut auf dieser Welt. Seine allerletzte Dienstreise hat den Christenmenschen Thiesbonenkamp jetzt nach Ostafrika gelenkt, in das muslimische Somaliland, ein unabhängiger, aber international nicht anerkannter Staat im Norden von Somalia.

Dort wie überall macht er aber die gleiche Erfahrung: „Ich stoße immer auf die große Leidenschaft der Menschen, sich in ihrer grauenhaften Lage nicht unterkriegen zu lassen.“ Es ist dies das Ringen der Menschen um Würde. Für eine christliche Hilfsorganisation ist das natürlich das zentrale Thema.

Eine Frau kann einen eigenen Kochtopf-Verleih starten, eine andere vermietet Hühner.

„Zwar sind wir auch in akuten Krisengebieten wie nach dem Tsunami in Indonesien 2004/05 oder dem Taifun auf den Philippinen mit humanitärer Soforthilfe gefordert und auch präsent. Aber unsere wahre Stärke liegt in dem zweiten Schritt. Dann, wenn sich die Menschen etwas berappelt haben nach einem Desaster, bieten wir ihnen Hilfe mit Bildung im weitesten Sinne an, in allen Facetten, mit Kinderzentren, neuen Schulen und Selbsthilfegruppen.“ Die Stärke der Zusammenarbeit liegt bei den Frauen, sagt er. Angeleitet von lokalen Akteuren der Kindernothilfe legen sie zum Beispiel ihr weniges Geld zusammen und vergeben Kleinstkredite an die Gruppenmitglieder. Eine Frau kann einen eigenen Kochtopf-Verleih starten, eine andere vermietet Hühner.

Duisburg exportiert nicht nur Stahl, sondern auch Gerechtigkeit

Duisburg exportiert nicht nur Stahl, sondern auch Gerechtigkeit, hatte einmal ein Laudator über die Kindernothilfe gesagt, die vor Jahren mit dem Bürgerwappen der Stadt Duisburg ausgezeichnet wurde. „Eine gute Beschreibung“, sagt Thiesbonenkamp, der auch heute noch keine wirkliche Notwendigkeit sieht, den Standort von Duisburg in die Bundeshauptstadt zu verlegen: „Wir werden von der Stadt, wie aber auch in Deutschland und der EU-Nachbarschaft sehr gut wahrgenommen.“ Das ist wichtig, denn jedes Jahr macht der Verein einen Haushaltsplan, der auf pure Hoffnung baut: Werden die Spenden auch im kommenden Jahr wieder großzügig für die Projekte fließen? Alleine 16 Millionen haben die Menschen damals nach dem Erdbeben auf Haiti der Kindernothilfe vertrauensvoll in die Hände gelegt. 58 Millionen Euro pro Jahr erzielt der Verein an Erträgen, 90 % davon sind Spenden.

Dass er einmal eine so große Aufgabe stemmen würde, hat er nach seinem Studium noch nicht gewusst. Da hatte der frisch examinierte Theologe zunächst eine Auszeit als Lkw-Fernfahrer eingelegt, um das wahre Leben der arbeitenden Menschen kennenzulernen. Später ging er mit seiner Frau sieben Jahre lang nach Kamerun in Afrika, als Seemannspastor. Kein Wunder, dass der beinah perfekt französischsprachige Seelenfischer wie geschaffen war, für eine große Aufgabe, die die Kindernothilfe für ihn bereit hielt. Doch Thiesbonenkamp würde jetzt gerne auch mal privat nach Indien fahren. Bald kann er es.