Duisburg. Das Duisburger Ehepaar Erika und Helmut Kemper stand zu Zeiten der DDR auf der Fahndungsliste wegen Republikflucht. Doch erst 1997 erfuhren sie von dem Haftbefehl, denn erst dann durften sie die Akten einsehen, die die Staatsschnüffler der DDR über sie angelegt hatten. Hier ist ihre Geschichte.
Sie war „Uhr“, er war „Zeiger“. Auf welch fantasievolle Decknamen sie die Stasi getauft hatte, erfuhren Erika und Helmut Kemper aus Walsum erst 1997. Damals durften sie erstmals ihre Akten von der „Firma Horch & Guck“, wie der Volksmund die Staatsschnüffler der DDR nannte, in Magdeburg einsehen. Da erhielten sie auch die Bestätigung für etwas, was sie lange Jahre zuvor nur geahnt und instinktiv verhindert hatten: die Vollstreckung eines ausgestellten Haftbefehls für das Ehepaar.
Als „Mitglieder einer „Kriminellen Menschen-Händler Bande“, so der Stasi-Jargon, sollten die Kempers 1974 nach Ost-Berlin gelockt und festgenommen werden. Wegen Hilfe zu Republikflucht wäre ihnen eine Verurteilung zu mindestens acht bis möglicherweise zwölf Jahren Zuchthaus sicher gewesen.
„Mit dem heutigen Verstand würde man das nicht mehr machen“, gibt Erika Kemper (80) unumwunden zu. Schließlich waren ihre Kinder erst sieben, vier und drei Jahre alt, als ihre Eltern sich erstmals 1963 nach Ost-Berlin aufmachten, um durch Mauer und Stacheldraht getrennte Familien und Paare unter Gefährdung der eigenen Person wieder zusammenzuführen.
"Wir wollten helfen"
„Wir wollten helfen“, fasst Helmut Kemper (83) ihre Motivation in drei Worten zusammen. Die Initialzündung war eine Begegnung im Aufnahmelager Marienfelde. Einmal im Jahr organisierte Helmut Kemper, der von 1961 bis 1967 Vorsitzender der Jungen Union Kreis Dinslaken gewesen war, eine Reise nach Berlin ins Tillmanns-Haus. Stets stand auch das Flüchtlingslager Marienfelde auf dem Besuchsprogramm, wo die Kempers 1963 einen Mann trafen, der knapp zwei Tage zuvor mit einem Lkw durch die Mauer gerast war, wobei er sich lediglich den Arm gebrochen hatte. „Der bat uns, seine Frau in Ost-Berlin zu benachrichtigen, dass er gut durchgekommen war. Seine Geschichte hat uns sehr bewegt. Das war der Impuls“, erinnert sich Erika Kemper.
Kempers machten Kurierdienste
Erst später habe sie der Leiter des Tillmanns-Hauses angesprochen. Helmut Kemper: „Der war in den 50er Jahren in Ost-Berlin verhaftet worden und hat acht Jahre gesessen. Seine Rache war, dass er so viele Leute wie möglich rausholen wollte. Deshalb hatte er sich mit einem Fluchthelfer zusammengetan.“
Helmut Kemper leitete 19 Kuriere aus Walsum und Dinslaken
Die Kempers stiegen ein, und schon bald leitete Helmut Kemper eine Gruppe von 19 Kurieren, alles JU-Mitglieder aus Walsum und Dinslaken. Wie ihr Mann leistete auch Erika Kemper Kurierdienste, fuhr mit einem Tagesvisum in den Ostteil der Stadt, suchte bestimmte Adressen auf und stellte den Bewohnern so seltsame Fragen wie: „Ist der Bootsmotor noch in Ordnung?“
Sollte heißen: Seid ihr immer noch bereit zu fliehen? Zudem lotsten die Kempers die Fluchtwilligen, die meist keine Ahnung hatten, wie sie rausgeschleust werden sollten, zur Fluchtmöglichkeit. Etwa zu dem Tunnel unter der Bernauer Straße, der vor 50 Jahren am 7. Januar fertiggestellt wurde. „Eigentlich war der Durchbruch schon im Dezember 1963 geplant“, erinnert sich Helmut Kemper. Im September, Oktober und November hatten die Kempers und die anderen Kuriere noch mal Kontakt zu den etwa 60 Personen aufgenommen. Im Dezember dann waren die Kuriere nach Berlin gereist, um die Fluchtwilligen zu benachrichtigen: „Ihr könnt jetzt los.“
West-Berliner Senat stoppte damals die Aktion
Doch der West-Berliner Senat, der von dem Unternehmen Wind bekommen hatte, stoppte die Aktion, weil er das erste Passierscheinabkommen mit der DDR unter Dach und Fach bringen wollte. Erst Anfang 1964 wurde es ernst. Am 7. Januar hatten sich die Wühlmäuse nach Osten durchgebuddelt. Doch sie hatten sich verrechnet und landeten statt im Schutz eines Hauskellers auf einem offen einsehbaren Kohlenplatz. Die Fluchtaktion wurde abgebrochen, nur drei jungen Frauen gelang es, in den Westen zu entkommen.
„Das waren ja alles Studenten, die keine Ahnung hatten, wie man so einen Tunnel gräbt“, sagt Helmut Kemper. Und weil er durch seine Arbeit in der Verwaltung der Zeche Walsum gute Kontakte zu den Bergleuten hatte, gelang es ihm, einen von ihnen für die nächste Tunnelbuddelei zu gewinnen. Parallel zum ersten, entstand ein zweiter unterirdischer Gang, der als Tunnel 57 in die Geschichte einging, weil durch ihn in nur zwei Tagen 57 Menschen aus der DDR entkamen. Der Walsumer Bergmann Burghard Sonnenberg hat mitgegraben. Zudem hatten er und Helmut Kemper dafür wichtige Ausrüstungsgegenstände von der Zeche Walsum ausgeliehen. Mit Erfolg. Viele, die durch den Tunnel 57 fliehen konnten, hatten schon durch die erste Grabung die Freiheit erlangen sollen.
Letzter Fluchtversuch scheiterte
Immer wenn die Kempers als Kuriere unterwegs waren, zum Teil auch mit falschen Papieren, die ihnen ein Helfer aus der Stadtverwaltung - ein SPD-Mann, wie beide betonen - besorgt hat, haben sie ihre Kinder den Nachbarn anvertraut. Erst 1973 haben sie ihren Kindern erzählt, warum sie so oft nach Berlin gefahren sind. Da hatten sie ihren Kurierdienst aber bereits seit acht Jahren ruhen lassen. „Anfang der 70-er Jahre hatte sich der Tunnelbau auch erledigt. Später kam dann die Möglichkeit des Freikaufens dazu“, schildert Helmut Kemper die weitere Entwicklung.
Trotzdem war das Ehepaar 1974 noch einmal bereit, einem Mann zu helfen, seine Frau in den Westen zu holen. Erika Kemper: „Wir haben alle Möglichkeiten geprüft, aber es ging nicht.“ So versuchte es der Mann eigenhändig, reiste illegal in die DDR ein, flog auf, wurde verhaftet und - plauderte. „Es war uns immer klar: Wenn die jemanden packen, der verrät alles“, sagt Helmut Kemper. Und seine Frau ergänzt: „Die Menschen wurden von der Stasi ja total unter Druck gesetzt. Dass viele dann ausgesagt haben, kann man ihnen nicht verübeln. Aber wir waren nach Durchsicht unserer Stasi-Akten unendlich froh, dass uns keiner unserer Freunde verraten hat.“
Stasi wusste fast alles über Kempers
Dennoch war das Walsumer Ehepaar völlig überrascht, wie viel die Stasi wusste. „In den Akten war unser Haus samt Garage genauestens beschrieben.“ Und als Erika Kemper Bilder von sich in den Unterlagen entdeckte, die sie in Ost-Berlin beim Kurierdienste zeigen, war sie zugegebenermaßen erschreckt. Davon seien sie nicht ausgegangen, damals so unter Beobachtung gestanden zu haben: „Ein komisches Gefühl hatten wir immer, und wir waren froh, wenn wir wieder west-berliner Boden unter den Füßen hatten.“ Und sie hatten kein Angst damals? „Doch“, sagt Helmut Kemper und schweigt einige Sekunden nachdenklich. „Angst hatte man immer. Aber wir waren so vorsichtig, dass wir zuversichtlich waren, dass nichts passiert.“
Der zweite Tunnel brachte den erwünschten Erfolg
Licht am Ende des Tunnels kann zuweilen auch ein schlechtes Zeichen sein. Ein ganz schlechtes. Monatelang haben sie gebuddelt, sich sitzend oder kniend durchs Erdreich gewühlt, die letzten Meter mit dem Taschenmesser freigekratzt, damit ja kein Geräusch nach außen dringt und die Arbeit der Maulwürfe vor der Zeit auffliegt, und dann das: Licht!
Licht am Ende des Tunnels, der in zwölf Metern Tiefe 140 Meter von einer alten Bäckerei an der Bernauer Straße in West-Berlin zu einem Haus in der Strelitzer Straße in Ost-Berlin führte und um die 60 Menschen den Weg in den Westen und in die Freiheit ermöglichen sollte. Es ist zwar Nacht als der Durchstoß am 7. Januar 1964 erfolgt, doch ein Blick mit dem Handspiegel rund um das geplante Einstiegsloch macht den Fluchthelfern sofort klar, dass ihr Unternehmen gescheitert ist. Sie haben sich vergraben.
Ein rotes Tuch bedeutete, dass der Fluchtweg versperrt sei
Statt im Keller des angepeilten Hauses an der Strelitzer Straße auszukommen, sind sie auf einem angrenzenden, frei einsehbaren Gelände gelandet, auf dem Kohlen gelagert werden. Und die Fluchtwilligen sind benachrichtigt, Kuriere haben ihnen bereits den Weg zum Einstieg übermittelt oder sollen sie am nächsten Tag zu der Stelle lotsen. Wie sollen sie gewarnt, wie zur Umkehr gebracht werden? Ein rotes Tuch wird in das Fenster eines Hauses in West-Berlin gehängt, ein verabredetes Signal, dass der Fluchtweg versperrt, die „Aktion“ abgeblasen ist. Der Durchbruch auf dem Kohlenplatz wird abgedeckt, damit er noch eine Weile verborgen bleibt, bevor ihn jemand entdeckt und Alarm schlägt. Dennoch finden in der Nacht drei junge Frauen unbehelligt den Einstieg und werden von den Fluchthelfern, die noch einige Zeit nach dem Durchstoß im Tunnel abwarten, nach Westen durchgeschleust.
Auch Erika Kemper ist am 8. Januar in Ost-Berlin unterwegs. Sie soll eine fünfköpfige Familie zum Tunneleinstieg lotsen, darunter einen dreijährigen Jungen. Um mit dem Kleinen kein Risiko einzugehen, hat sie sich von einem Walsumer Kinderarzt harmlose Beruhigungstropfen besorgt. Doch irgendwie fühlt der Junge, dass etwas anders ist. Das Mittel wirkt nicht.
Tunnel 57 ist einer der berühmtesten Fluchttunnel von Berlin
Als sich die kleine Gruppe dem Haus an der Strelitzer Straße nähert, sieht sie das Warnzeichen und kehrt um. In der Zwischenzeit ist der Kohlehändler auf die Arbeit der Maulwürfe gestoßen und hat die Polizei benachrichtigt. Mit einer Handgranate bringt die den Tunnel auf der Ost-Seite zum Einsturz. Die Enttäuschung der Buddler ist riesig, aber aufgeben wollen sie nicht. Parallel zu ihrem ersten Tunnel beginnen sie im April 1964 mit einem zweiten. Knapp neun Monate nach dem Auffliegen ihrer ersten „Grabung“ ist der zweite Tunnel fertiggestellt. Dank fachmännischer Unterstützung und besserer Vermessung landen die 34 Leute um den Fluchthelfer Wolfgang Fuchs nicht ganz punktgenau in dem Haus an der Strelitzer Straße 55, sondern in einem nicht mehr genutzten Toilettenhaus im Hof.
Eine so nicht gewollte, aber gern genommene Tarnung, die in nur zwei Tagen, am 3. und 4. Oktober, 57 Menschen die Flucht aus der DDR ermöglicht. Der Tunnel 57, wie er wegen der Anzahl der Geflüchteten genannt wird, ist einer der berühmtesten Fluchttunnel von Berlin. An dem Erfolg waren auch Helmut und Erika Kemper aus Walsum beteiligt.