Licht am Ende des Tunnels kann zuweilen auch ein schlechtes Zeichen sein. Ein ganz schlechtes. Monatelang haben sie gebuddelt, sich sitzend oder kniend durchs Erdreich gewühlt, die letzten Meter mit dem Taschenmesser freigekratzt, damit ja kein Geräusch nach außen dringt und die Arbeit der Maulwürfe vor der Zeit auffliegt, und dann das: Licht! Licht am Ende des Tunnels, der in zwölf Metern Tiefe 140 Meter von einer alten Bäckerei an der Bernauer Straße in West-Berlin zu einem Haus in der Strelitzer Straße in Ost-Berlin führte und um die 60 Menschen den Weg in den Westen und in die Freiheit ermöglichen sollte. Es ist zwar Nacht als der Durchstoß am 7. Januar 1964 erfolgt, doch ein Blick mit dem Handspiegel rund um das geplante Einstiegsloch macht den Fluchthelfern sofort klar, dass ihr Unternehmen gescheitert ist. Sie haben sich vergraben. Statt im Keller des angepeilten Hauses an der Strelitzer Straße auszukommen, sind sie auf einem angrenzenden, frei einsehbaren Gelände gelandet, auf dem Kohlen gelagert werden. Und die Fluchtwilligen sind benachrichtigt, Kuriere haben ihnen bereits den Weg zum Einstieg übermittelt oder sollen sie am nächsten Tag zu der Stelle lotsen. Wie sollen sie gewarnt, wie zur Umkehr gebracht werden? Ein rotes Tuch wird in das Fenster eines Hauses in West-Berlin gehängt, ein verabredetes Signal, dass der Fluchtweg versperrt, die „Aktion“ abgeblasen ist. Der Durchbruch auf dem Kohlenplatz wird abgedeckt, damit er noch eine Weile verborgen bleibt, bevor ihn jemand entdeckt und Alarm schlägt. Dennoch finden in der Nacht drei junge Frauen unbehelligt den Einstieg und werden von den Fluchthelfern, die noch einige Zeit nach dem Durchstoß im Tunnel abwarten, nach Westen durchgeschleust.

Auch Erika Kemper ist am 8. Januar in Ost-Berlin unterwegs. Sie soll eine fünfköpfige Familie zum Tunneleinstieg lotsen, darunter einen dreijährigen Jungen. Um mit dem Kleinen kein Risiko einzugehen, hat sie sich von einem Walsumer Kinderarzt harmlose Beruhigungstropfen besorgt. Doch irgendwie fühlt der Junge, dass etwas anders ist. Das Mittel wirkt nicht. Als sich die kleine Gruppe dem Haus an der Strelitzer Straße nähert, sieht sie das Warnzeichen und kehrt um. In der Zwischenzeit ist der Kohlehändler auf die Arbeit der Maulwürfe gestoßen und hat die Polizei benachrichtigt. Mit einer Handgranate bringt die den Tunnel auf der Ost-Seite zum Einsturz. Die Enttäuschung der Buddler ist riesig, aber aufgeben wollen sie nicht. Parallel zu ihrem ersten Tunnel beginnen sie im April 1964 mit einem zweiten. Knapp neun Monate nach dem Auffliegen ihrer ersten „Grabung“ ist der zweite Tunnel fertiggestellt. Dank fachmännischer Unterstützung und besserer Vermessung landen die 34 Leute um den Fluchthelfer Wolfgang Fuchs nicht ganz punktgenau in dem Haus an der Strelitzer Straße 55, sondern in einem nicht mehr genutzten Toilettenhaus im Hof. Eine so nicht gewollte, aber gern genommene Tarnung, die in nur zwei Tagen, am 3. und 4. Oktober, 57 Menschen die Flucht aus der DDR ermöglicht. Der Tunnel 57, wie er wegen der Anzahl der Geflüchteten genannt wird, ist einer der berühmtesten Fluchttunnel von Berlin. An dem Erfolg waren auch Helmut und Erika Kemper aus Walsum beteiligt.