Essen. . Zuerst verlegten sie sich auf den Taschen- und Trickdiebstahl in Fußgängerzonen oder Gaststätten. Doch seit etwa einem Jahr bestehlen Kinder- und Jugendbanden Bankkunden ganz gezielt an Geldautomaten. In vielen Eingangshallen von Banken und Sparkassen werden Kunden mit Hinweisschildern gewarnt.
Die drei Kinder haben die Situation genau abgepasst, ganz offensichtlich machten sie dies nicht zum ersten Mal: Die 35-jährige Frau hatte gerade ihre PIN-Nummer in den Geldautomaten einer Bankfiliale in Lünen eingeben, da wurde sie von drei 11 und 13-Jährigen bedrängt und zur Seite geschubst. Als sich die Frau wehrte, schlugen und traten sie die Kundin. Ein Polizeibeamter, der die Szene zufällig beobachtete und einschritt, wurde schmerzhaft in den Arm gebissen.
„Solche Fälle haben wir seit gut einem Jahr beinahe jeden Tag“, sagt Ramon van der Maat von der Polizei in Duisburg. Nach Erkenntnissen der Polizei seien es meist Kinder und Jugendliche aus Rumänien oder Bulgarien, die sich auf diese Methode spezialisiert hätten. Zwischen 300 und 1000 Euro erbeuten sie in der Regel von den überrumpelten Bankkunden.
Auf Raubzug im Ruhrgebiet
Die jungen Täter reisen auf der Suche nach leichten Opfern durchs gesamte Ruhrgebiet. Vor allem ältere Kunden haben sie im Visier, sagt Manfred Radecke, Sprecher der Polizei in Dortmund, und erklärt die typische Masche: Oft sind es drei Kinder oder Jugendliche, die in der Vorhalle der Filiale die Situation beobachten. In dem Moment, in dem ein Kunde seine Geheimnummer eingibt, versuchen sie die Person abzulenken, bitten sie um eine Unterschrift oder eine Spende und halten ihr eine Liste oder ein Formular vors Gesicht. Der Zweite versucht dann, die Ausgabesumme mit der Tastatur rasch zu erhöhen und greift sich die Scheine, sobald sie aus dem Schacht kommen.
Manche Banken belassen es inzwischen nicht mehr nur bei Warnhinweisen, sondern postieren auch Sicherheitsleute im Eingangsbereich. „Seither sind die Fälle etwas weniger geworden“, sagt van der Maat. Doch ganz verhindern lassen sich die Beutezüge nicht. Wer jünger als 14 Jahre ist, gilt als strafunmündig. Und da die meisten Täter minderjährig sind, werden sie selten einem Haftrichter vorgeführt und bald wieder auf freien Fuß gesetzt.
Hintermänner trainieren die Kinder
„Wenn ein fester Wohnsitz vorhanden ist, wird es schwer, einen Haftrichter davon zu überzeugen, dass ein Jugendlicher in Untersuchungshaft muss“, erklärt Frank Scheulen vom Landeskriminalamt (LKA). Ertappen die Beamten einen Jugendlichen oder ein Kind auf frischer Tat, werden sie meist in eine Jugendschutzeinrichtung gebracht. „Aber die sind ein paar Stunden später wieder auf der Straße“, weiß Roman van der Maat. „Sie werden abgeholt, steigen ins Auto und sind weg.“ Und alles beginnt von vorne.
Die Polizei geht davon aus, dass die „Klau-Kids“ nicht auf eigene Initiative handeln. „Das haben die sich nicht selbst ausgedacht. Da gibt es Hintermänner, die die Kinder trainieren und schicken. Das wird gesteuert“, glaubt der Dortmunder Polizist Manfred Radecke. Das Risiko für die erwachsenen Hintermänner ist gering. Im schlimmsten Fall müssen sie später die Ertappten am Jugendheim wieder einsammeln.
Statistik zeigt sinkende Fallzahlen
Diese gefühlt wachsende Bedrohung wird von der Kriminalstatistik allerdings nicht bestätigt. Zwar stieg 2012 die Zahl der Wohnungseinbrüche um 7,5 Prozent auf über 54.000 Fälle. Doch ging die Jugendkriminalität allgemein leicht zurück, auch bei den sogenannten „Intensivtätern“, die fünf oder mehr Straftaten pro Jahr begehen. Die Polizei ermittelte noch knapp 7000 solcher Mehrfachtäter, 1500 weniger als im Jahr zuvor.
Dieser Trend ließ sich auch bei den Kindern beobachten. Zählte die Polizei in NRW 2011 noch 16 331 „deutsche Tatverdächtige“ unter 14, sank die Zahl ein Jahr später auf 13 848, ein Minus von 15,2 Prozent. Ähnlich sieht es bei den „nichtdeutschen Tatverdächtigen“ aus: 2011 wurden 3420 Kinder unter 14 festgestellt, 2012 waren es nach den Zahlen des LKA 2761, ein Rückgang um 19,3 Prozent.
Keine Entwarnung
Entwarnung aber will LKA-Sprecher Frank Scheulen deshalb aber nicht geben. Bei einzelnen Delikten und in bestimmten Stadtteilen seien die Fallzahlen immer noch extrem hoch. Roman van der Maat von der Polizei Duisburg macht folgende Rechnung auf: „Hier leben knapp 7000 gemeldete Personen aus Bulgarien und Rumänien. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Die Statistik für Duisburg weist 1700 Tatverdächtige aus diesen Ländern aus.“ Seit 2007 würden die Zahlen stetig steigen.
Hoffnung, dass sich daran entscheidend etwas änder könnte, hat er kaum: „Die Polizei sitzt am Ende der Kette. Wir können nicht jeden Tag Rumänen und Bulgaren festnehmen“, sagt van der Maat. Dem Rechtsstaat kämpfe mit stumpfen Waffen gegen eine Tätergruppe, für die eine Gefängnisstrafe noch deutlich erträglicher sei als ein Leben in größter Armut und Not in der Heimat. Das Problem müsse daher politisch gelöst werden, auf internationaler und auch lokaler Ebene. „Das Elend fängt an bei skrupellosen Vermietern, die ihre Schrottimmobilien zu teuer vermieten. Und es geht weiter mit Arbeitgebern, die diese Leute für drei oder vier Euro ausbeuten.“
Wachsam sein
LKA-Mann Scheuren kann am Ende nur an die Aufmerksamkeit der Bankkunden appellieren: „Zuerst der Vorraum beobachten. Wer ein ungutes Gefühl hat, sollte lieber später noch einmal wiederkommen.“ Wachsamkeit am Automaten sei gefragt. Und wenn es zum Übergriff kommt? „Nicht den Helden spielen!“, rät Scheuren. „Und die Polizei rufen.“