Duisburg. Er war der erfolgreichste Gewichtheber seiner Zeit. Doch bei den Olympischen Spielen 1984 galt der Duisburger Rolf Milser, anders als die Jahre zuvor, nicht mehr als Favorit.
Sorgfältig bearbeitet er seine Hände mit dem Talkumpuder, reckt siegesgewiss den Arm in die Luft, als ihn das Publikum in der Olympia-Halle von Los Angeles anfeuert. Er lässt sich Zeit, rückt den Gürtel zurecht, nutzt die ablaufende Minute voll aus. „Es ist vielleicht die letzte Minute des Gewichthebers, des Wettkämpfers Rolf Milser“, sagt der Fernsehkommentator.
28 Jahre später sitzt Milser in der Lobby seines Landhotels, vor ihm steht ein schwarzer Kaffee. Er sieht erholt aus, ist sogar sonnengebräunter als der in Sizilien geborene Miteigentümer Antonio Pelle. Vor einem Monat ist Milser 61 geworden, gerade ist er vom Heilfasten an der Rhön zurückgekehrt. Zweimal im Jahr reist er dorthin, zum 27. Mal war er jetzt da. Milser lehnt sich zurück, sagt, dass er sich an den Moment von damals noch sehr genau erinnern könne. „Ich habe mich nur auf die Leistung konzentriert, alles um mich herum ausgeblendet. Erst ein bis zwei Tage später realisiert du dann, was du da gewonnen hast“.
"Das ist halt Politik"
Als Milser 1984 in L.A. in der Halle steht, ist er 33 Jahre alt. 7 mal war er Welt-, 5 mal Europa- und 12 mal Deutscher Meister, hinzu kommen 115 Deutsche und zwei Weltrekorde. Olympia war bis dahin eher ein erfolgloses Kapitel. 1972 in München wurde er Siebter, 1976 galt er in Montreal als Titelfavorit, hatte ein halbes Jahr im Bundesleistungszentrum „im tiefsten Schwarzwald“ trainiert, dann musste er 10 Kilo für die Mittelgewichtsklasse abtrainieren. „Eine Klasse höher hätte ich Silber sicher gehabt, aber ich wollte Gold“. Der Plan ging nicht auf: Milser bekam Krämpfe, konnte nicht Reißen und ergatterte „nur“ WM-Gold im Stoßen.
Dann, 1980, ist Milser wieder Favorit. Doch die Weststaaten boykottieren die Spiele in Moskau. „Das ist halt Politik. Aber da war meine Motivation am Ende“. Milser beschließt, jetzt „etwas für den Geist zu tun“: Er studiert auf der Trainerakademie, schließt zwei Jahre später ab, elfmal mit der Note eins. „Ich hatte während meines Studiums nicht so viel trainiert. Doch dann hat man mich gefragt, ob ich nicht noch zwei Jahre dran hängen will. Für Olympia“.
Der ideale Zeitpunkt um aufzuhören
OB Krings und der Leiter des Sportamtes, wo Milser in der Verwaltung arbeitet, stellen ihn für zwei weitere Jahre vom Dienst frei. Milser trainiert, fünfmal die Woche, sieben Stunden am Tag. Im Schwergewicht jedoch gehört er nicht mehr zu den Favoriten, die kommen aus den Oststaaten. Und so war es eine späte Fügung, dass diesmal die Oststaaten Olympia boykottieren. „Durch die ausgedünnte Konkurrenz war es nicht ganz so schwer, aber leicht war es auch nicht“, sagt Milser schmunzelnd. 385 Kilo stemmte er an diesem Tag in Los Angeles in die Höhe, der Weltrekord lag bei 440 Kilo. „Ich würde das Ganze ausgleichende Gerechtigkeit nennen“, sagt er.
Nachdem die Hantel in L.A. auf den Boden kracht, dauert es nur ein paar Sekunden, Milser macht einen Luftsprung und schüttelt eine Hand, dann hängt ihm auch schon ein Funktionär das Edelmetall um den Hals. „Das, was er heute geschafft hat, das ist einmalig, die Goldmedaille bei Olympia“, sagt der Kommentator im Fernsehen. „Ich hatte das Gefühl als sei die ganze Last von mir gefallen, die ich jemals gestemmt habe“, sagt Milser. Es sollte tatsächlich seine letzte Minute als Gewichtheber sein. „Die Hantel ging runter und danach habe ich sie nie wieder aufgehoben. Es hätte keinen idealeren Zeitpunkt geben können um aufzuhören“.
Familie bleibt auf der Strecke
Am Eingang seines Hotels, das er 1997 eröffnet hatte, hängt die Goldmedaille in einer Glasvitrine, zusammen mit der silbernen von Jürgen Hingsen und den roten Boxhandschuhen von Muhammad Ali. Ihre Legierung ist am Rand inzwischen etwas abgegriffen, weil viele Gäste und Bekannte einmal olympisches Gold in der Hand halten wollten. Allein diese Geste ist Zeichen des Respekts vor einer Ausnahmeleistung – auch wenn sie 28 Jahre zurückliegt. „Von einer Goldmedaille profitierst du ein Leben lang“, sagt der 61-Jährige.
„Diese Erfolge, die Reiserei, das war eine tolle Zeit“, sagt Milser. Er ist ein unterhaltsamer Gesprächspartner, er lacht viel, die Momente, in denen er nachdenklich wirkt, sind eher selten. „Die Familie allerdings bleibt dabei auf der Strecke, man muss auf andere Dinge verzichten“. Aber dafür habe er heute fünf Patenkinder, fügt er schnell hinzu. Auch wenn er von Begegnungen mit früheren Konkurrenten spricht, von Gewichthebern aus West und Ost, die dennoch eine „große Familie“ waren, fällt ihm gleich wieder etwas Erheiterndes ein.
Die Wehmut verfliegt so schnell wie früher das Talkumpuder an seinen Händen. Amüsiert rückt er im Sessel nach vorne und erzählt, wie er Freunden im Urlaub in Gran Canaria von seinem Erlebnissen auf dem Jakobsweg berichtet hat. „Plötzlich stand eine Frau am Nebentisch auf und rief, dass sie jetzt aber die Faxen dicke hätte und ich mit dieser Lügerei aufhören sollte. Als ich ihr gesagt habe, dass ich auch noch Weltmeister und Olympiasieger bin, ist sie entrüstet aus dem Saal gestürmt“. Man kann sich vorstellen, dass Milser es einigen Hotelgästen nicht übel nimmt und es ihn vielmehr erheitert, wenn sie seinen Kompagnon Antonio Pelle mit den Worten begrüßen: „Guten Tag Herr Milser, freut mich, Sie kennen zu lernen“.