Duisburg. .

DerWesten stellt Bürger und Gruppen vor, die sich nach der Loveparade ehrenamtlich engagieren. „Massenpanik Selbsthilfe e.V.“ ist der einzige Selbsthilfeverein, in dem sich Hinterbliebene, Verletzte und Traumatisierte unterstützen.

Nach der Loveparade-Katastrophe haben sich in und um Duisburg Bürger zu Gruppen, Initiativen und Vereinen zusammengeschlossen. Sie engagieren sich für unterschiedliche Ziele, treten mitunter dennoch gemeinsam auf oder unterstützen sich gegenseitig - etwa bei der Unterschriftensammlung der Abwahl-Initiative „Neuanfang für Duisburg“. DerWesten stellt die Gruppen in loser Folge in Steckbriefen vor: nach Initiative Spendentrauermarsch, Neuanfang für Duisburg, DocuNews.org, Never forget und Bürgerkreis Gedenken nun „Massenpanik Selbsthilfe e.V.“.

Wer?

Jürgen Hagemann (48) aus Duisburg-Rheinhausen hat „Massenpanik Selbsthilfe e.V.“ kurz nach der Entlassung seiner Tochter aus dem Krankenhaus gegründet. Sie, Virginia (17), hat die Massenpanik am 24. Juli 2010 schwer verletzt und traumatisiert überlebt. Nach dem ersten Schock plante Hagemann nach einem Aufruf von Ex-Bundesinnenminister und Anwalt Gerhart Baum (von der Düsseldorfer Kanzlei Baum, Reiter & Kollegen) eine gemeinsame Klage der Geschädigten. Auf der Suche nach ebenfalls Betroffenen richtete er die Website http://loveparade-sammelverfahren.de ein (mittlerweile ersetzt durch: http://massenpanik-selbsthilfe.de).

Im Erfahrungstausch mit all denen, die sich meldeten, lernte Hagemann zahlreiche Mitglieder des heute einzigen Selbsthilfevereins kennen, in dem sich Hinterbliebene, Verletzte und Traumatisierte unterstützen. „Massenpanik Selbsthilfe“ hat etwa 70 Mitglieder, steht darüber hinaus im Austausch mit vielen weiteren Betroffenen aus ganz Deutschland. Mitglied können nur Opfer der Massenpanik vom 24. Juli 2010 werden.

Seit wann?

Zum ersten Treffen kamen am 11. September 2010 etwa 50 Opfer in eine Duisburger Gaststätte: Verletzte, Eltern, Hinterbliebene. Sie tauschten sich in der Folge vor allem in einem geschlossenen Internetforum aus, um das Jürgen Hagemann die Seite http://loveparade-sammelverfahren.de Ende August 2010 erweitert hatte.

Arbeit

Die Vereinsmitglieder und Aktiven von „Massenpanik Selbsthilfe“ helfen sich und anderen Betroffenen, organisieren monatliche Treffen.

Jürgen Hagemann und Janine Mansollek, die bei der Loveparade schwer verletzt wurde. Foto: Gerd Wallhorn / WAZ FotoPool
Jürgen Hagemann und Janine Mansollek, die bei der Loveparade schwer verletzt wurde. Foto: Gerd Wallhorn / WAZ FotoPool © WAZ FotoPool

„Wir verstehen uns nicht als Selbsthilfegruppe, sondern als Selbsthilfeverein“, sagt Hagemann. Und erklärt: „Wir helfen selbstverständlich auch Nicht-Mitgliedern mit unserem Wissen und unseren Kontakten.“ So bietet das Netzwerk vor allem Erfahrungen im Kampf mit Behörden, Krankenkassen, Versicherungen und Arbeitgebern.

Zwei Beispiele praktischer Hilfe: Als eine Frau Anfang 30 wegen ihrer bei der Massenpanik erlittenen Verletzungen erwerbsunfähig wurde und als Bezieherin von Arbeitslosengeld II (ALG II) einen Monat mittellos war, organisierte „Massenpanik Selbsthilfe “ finanzielle Unterstützung: Der Hilfsfond „Wir leisten Hilfe“ des Unternehmens Westfälische Grundbesitz und Finanzverwaltung AG sprang ein und spendete das Geld. In einem anderen Fall wollte eine Krankenkasse einer traumatisierten jungen Frau die Therapie nicht bezahlen. Durch den Einsatz des Vereins finanzierte „subvenio - Unfallopfer Lobby Deutschland“ die Behandlung.

Aber, betont Hagemann: „Wir sind keine Fachleute.“ Juristischen Rat holt sich der Verein deshalb bei der Kanzlei Baum, Reiter & Collegen. Sie betreut etwa 80 der im Verein engagierten und vom Verein beratenen Opfer im Rahmen eines Sammelverfahrens.

Um die psychosoziale Betreuung der Opfer kümmert sich ein großes Team Freiwilliger der evangelischen Notfallseelsorge. Deren Seelsorger hatte Hagemann schon zur ersten Zusammenkunft eingeladen. Notfallseelsorgerin Jutta Unruh führte zahlreiche Opfer in Gesprächskreisen zusammen. Hagemann: „Es gibt eine Gruppe für Verletzte und eine für die Hinterbliebenen. Die psychischen Folgen der Katastrophe sind viel gravierender, als viele von uns anfangs gedacht haben.“ Das muss der Rheinhausener auch bei seiner Tochter Virginia mit ansehen: Nach einer zweimonatigen, stationären Trauma-Therapie wird sie bis heute ambulant behandelt.

Aktionen

Zwar hält sich Massenpanik Selbsthilfe mit Aktionen und Stellungnahmen zurück. Zuweilen aber erfordern Aufklärung und Trauerarbeit den Schritt in die Öffentlichkeit:

Am 5. Februar 2011 veranstaltete der Verein gemeinsam mit Lothar Evers (DocuNews) den Runden Tisch „Loveparade 2010: Offene Fragen - Erste Antworten“ . Die präsentierten Dokumente und Fakten ließen die Teilnehmer zu dem Schluss kommen, dass die Loveparade in dieser Form niemals hätte genehmigt werden dürfen. Eine weitere Erkenntnis: Nach offizielle Listen traten am 24. Juli 2010 von den 1300 vorgesehenen Ordnern rund 40 Prozent ihren Dienst nicht an.

Im Vorfeld des Gedenk-Konzertes für die Loveparade-Opfer im April erzählten Angehörige und Verletzte mitwirkenden Jugendlichen ihre Geschichten.

Mit Erfolg setzten sich einige Angehörige und Hinterbliebene aus dem Verein zuletzt für den Erhalt der Rampe am Unglücksort als historische Stätte ein. Aber nicht alle der 50 Erstunterzeichner der Petition sind Mitglieder von „Massenpanik Selbsthilfe“. „Das haben Einzelne auf den Weg gebracht und erreicht, nicht unser Verein“, bemüht sich Hagemann um Trennschärfe.

„Remind the Love“ ist das Motto der Nacht des Erinnerns vom 22. auf den 23. Juli 2011. Die Idee stammt aus dem Kreis der Angehörigen im Verein Massenpanik Selbsthilfe. Montage: Gerd Wallhorn/WAZ FotoPool
„Remind the Love“ ist das Motto der Nacht des Erinnerns vom 22. auf den 23. Juli 2011. Die Idee stammt aus dem Kreis der Angehörigen im Verein Massenpanik Selbsthilfe. Montage: Gerd Wallhorn/WAZ FotoPool © WAZ FotoPool

Zwei Tage vor dem ersten Jahrestag der Katastrophe feiern die Familien der 21 Todesopfer und zahlreiche bei der Massenpanik Verletzte eine Nacht des Erinnerns in Clubs und Szenekneipen Duisburgs. Die Idee für das fröhliche Gedenken am Freitag, 22. Juli, unter dem Motto „Remind the love“ stammt aus dem Kreis der Betroffenen, die sich im Verein austauschen. Zur Clubnacht haben DJ Richwood, Mikrofonstrom und Felix Raymon den Song „Hope you can hear me“ gemixt. Das Video zur Aktion hat „Massenpanik Selbsthilfe e.V.“ bei der Produktionfirma Medienbunker in Marxloh in Auftrag gegeben. Alle Informationen zur Clubnacht: www.remind-the-love.de.

Am Samstag, 23. Juli, wollen Angehörige und Opfer nach Einbruch der Dunkelheit „meditative Projektionen“ an die Wände des Katastrophen-Tunnels über der Karl-Lehr-Straße werfen. Ein Saxofonist wird spielen, „wir projizieren dazu Fragen an die Wand“, erklärt Hagemann.

Am Nachmittag zuvor plant der Verein außerdem ein Treffen des „Netzwerkes Loveparade“, wie Hagemann es nennt, im Café „Der Kleine Prinz“. Es soll ein Beisammensein all der ehrenamtlichen Helfer, Fachleute und Anwälte sein, die sich durch ihr Engagement bei der Bewältigung der Loveparade-Katastrophe von Duisburg kennengelernt haben.

Kooperationen

Die Opfer und Hinterbliebenen werden von der Notfallseelsorge der Evangelischen Kirche im Rheinland betreut. Das Ziel der Aufklärung verbindet Massenpanik Selbsthilfe mit dem Duisburger Journalisten Lothar Evers (DocuNews). Die Initiative Spendentrauermarsch suchte den Kontakt zu den Loveparade-Opfern auch über „Massenpanik Selbsthilfe“. Mit dem Verein „Never forget“, der ebenfalls Interessen der Opfer vertreten will und für eine Gedenkstätte am Unglücksort kämpft, hat „Massenpanik Selbsthilfe“ dagegen keinen Kontakt. Einige Verletzte und Hinterbliebene sind mit dem Auftreten von „Never forget“ nicht einverstanden, fühlten sich nach eigenen Angaben zuweilen sogar brüskiert von den Aktionen der Gruppe.

Warum?

Als Vater wollte Vereinschef Jürgen Hagemann nach der Loveparade zunächst „nur“ seiner verletzten Tochter helfen, dann als Kläger andere Betroffen finden, um juristisch gemeinsam klagen zu können. Als Initiator und Netzwerker wurde er aus einer persönlichen Motivation heraus so Vereinsgründer, danach Vorsitzender. Wie er haben auch die anderen Mitglieder erfahren müssen: „Wir wollen Hilfe, aber uns hilft niemand. Also müssen wir uns gegenseitig unterstützen.“

Für Hagemann ist Massenpanik Selbsthilfe mittlerweile eine Zeit raubende „Herzensangelegenheit. Ein Antrieb dafür ist - leider - noch immer: „Ich sehe, wie es meiner Tochter nach wie vor geht. Sie musste ihren Arbeitsplatz aufgeben, kann in keine Disco gehen. Da war sicher auch eine Menge Wut, die ich umwandeln musste.“