Duisburg. .

Duisburg hat eine neue Pilgerstätte: Der Tunnel, in dem nunmehr 21 Loveparade-Besucher starben, ist das Ziel von Menschen, die gemeinsam trauern, aber auch kondolieren wollen. Vor allem in den Abendstunden kommen viele Menschen.

Zwei Stunden hat die junge Frau angestanden. Zwei Stunden, in denen die Menschenschlange vor ihr dann und wann in Tippelschritten vorankam. Zwei Stunden, die sie mit viel Geduld und in aller Stille in sich versunken verbrachte. Und dann steht sie da, an jenem inoffiziellen Kondolenzbuch, das auf einem hölzernen Stehpult ausgelegt ist – und weiß trotz der langen Wartezeit nicht, was sie nun schreiben, wie sie ihren großen Kummer ausdrücken soll. Zwei Stunden reichen manchmal eben nicht aus, um 1000 bewegende Gedanken in ein paar Zeilen fassen zu können.

„Wir erleben hier ganz oft diesen Akt des Innehaltens. Fast alle zögern, wenn sie zum Stift greifen. Sie müssen sich vor dem leeren Blatt Papier erst sammeln, ehe sie die passenden Worte finden“, schildert Dr. Michael Willhardt. Der 54-Jährige ist Vorsitzender des Hochfelder Vereins „Zukunftsstadtteil“. Und er ist mit seinen zwölf Vereinskollegen Initiator dieser bemerkenswerten Bürgeraktion.

Ein eigenes Kondolenzbuch

Sie sind es, die hier im Tunnel an der Karl-Lehr-Straße – der nach nunmehr 21 Todesfällen bei der Loveparade-Katastrophe zu trauriger Weltberühmtheit gelangt ist – Mahnwache halten. Und sie haben ein eigenes Kondolenzbuch ausgelegt. Das soll nicht in Konkurrenz zu jenem städtischen Exemplar treten, das seit Dienstag im Rathaus-Foyer zu finden ist. „Nein, wir wollten vielmehr hier am Un-glücksort einen Anlaufpunkt schaffen – weil wir gesehen haben, dass die vielen Menschen, die hierhin kommen, einen solchen dringend brauchen“, sagt Willhardt.

Und so stehen sie da. Und warten. Neben ihnen arrangiert eine Frau einen ganzen Beutel Teelichter zu Figuren. So werden Kerzen zu Tränen, Kerzen zu Kreuzen und Kerzen zu Herzen. Der Schein des flackernden Lichts lässt die Schatten des Stiftes auf dem Papier tanzen. Noch einmal durchatmen. Und sie dann schreibend aus dem Körper fließen lassen, die Gefühle.

Diese reichen laut Willhardt meistens von Trauer bis hin zu Fassungslosigkeit. Das weiß er, weil er spät nachts, wenn die Mahnwache mal für ein paar Stunden verschnauft, schon einmal ins Buch hineingeschaut hat. „Viel Betroffenheit, wenig Aggressivität gegen die Verantwortlichen“ will er beim Blättern entdeckt haben. Letztere wird eher verbal von den Hunderten Tunnel-Besuchern geäußert, die da zu später Stunde noch über den überdachten Asphalt schlendern, um hier ein Stück ihrer Wut, ihres Zorns herauszulassen.

Wütend über städtisches Krisenmanagement

Wütend waren auch die Zukunftsstadtteil-Mitglieder – über das Krisenmanagement der Stadt. „Die haben sich alle weggeduckt. Dabei muss man nach solch einer Katastrophe doch ein paar positive Bilder dagegen setzen“, erklärt Willhardt. „Wir dürfen der Welt nicht länger nur immer wieder Bilder des Desasters zeigen, sondern vielmehr unseren würdigen Umgang damit.“ Worte, die alle verstörten Bürger der Stadt ermutigen. Worte, die gleichzeitig das bisherige Handeln der Stadt ächten.

Die Wärme, die das Kerzenmeer aufsteigen lässt, sorgt für eine wohlige Atmosphäre an diesem unwirtlichen Ort. Und die roten Grablichter tauchen die Tunnelwände in ein sanftes Licht. „Zur Trauerarbeit gehört immer ein ritueller Rahmen. Und ich glaube, der wurde hier in beeindruckender Art und Weise geschaffen“, sagt Willhardt. Der gelernte Soziologe erlebte die tragischen Ereignisse des vergangenen Samstag aus der Ferne mit. „Ich kann mit solchen Massenveranstaltungen nun mal nichts anfangen“, sagt er. Doch muss er schmunzeln, wenn er auf die wieder länger werdende Schlange vor dem Kondolenzbuch schaut. Denn das hier, ist längst auch zu einer Massenveranstaltung geworden. 1300 Menschen haben sich im ersten Buch verewigt, das war am Mittwochabend gefüllt. Das zweite liegt schon aus. Übergeben werden soll es an einen Vertreter der Stadt – und zwar am Samstag im Rahmen der Trauerfeier.

„Das Buch soll auf jeden Fall nachher in Duisburg bleiben“, sagt Willhardt. Am liebsten als Beigabe eines Mahnmals.