Duisburg. Kindesmissbrauch ist statistisch in jeder Kita Thema, so der Kinderschutzbund. Welche Warnzeichen es gibt und was Erzieher und Eltern tun können.

Überall, wo Menschen regelmäßig mit Kindern in Kontakt kommen, muss die sexuelle Entwicklung von Kindern im Vorfeld ein Thema sein, fordern die Expertinnen des Kinderschutzbundes in Duisburg. Schon in der Ausbildung von Kinderpflegerinnen müsse eine Sensibilität geschaffen werden. Nur so könnten die jungen Kräfte lernen, dass Bauhütten und Kuschelecken zwar pädagogisch wichtige Rückzugsorte sind, „man aber trotzdem immer mal reinschauen sollte“, mahnt Yansa Schlitzer.

Die Therapeutin ist seit 30 Jahren mit der Thematik befasst und bedauert, dass die sexuelle Entwicklung von Kindern kein verpflichtendes Element in der Ausbildung von Lehrern und Erziehern ist. „Es gibt keine strukturelle Verankerung, es ist nur eine Frage des guten Willens der Ausbildungseinrichtungen“, berichtet sie, „und das ist ein Skandal“. Ihr geht es darum, Vorfälle innerhalb der Kitas vermeiden zu helfen als auch darum, als wichtigster täglicher Kontakt zu spüren, wenn in Familien etwas nicht mehr rund läuft.

Kindergartenleitungen könnten Platz für die Thematik schaffen, etwa bei Teamtagen, „das Thema ist für die Entwicklung aller Kinder relevant“. Nur so könne man präventiv arbeiten und etwa Kindeswohlgefährdung zeitig entdecken. „Schon die bloße Statistik zeigt, dass es in den letzten 30 Jahren keine Kita gab, die nicht mit einem betroffenen Kind konfrontiert war.“

Für die Expertinnen des Kinderschutzbundes ist eine wichtige Voraussetzung, dass pädagogische Einrichtungen ein Schutzkonzept haben, das die sexuelle Entwicklung im Blick hat. Die Stadt Duisburg hat 2023 einen Fachtag für alle Kitas in städtischer Trägerschaft arrangiert, um entsprechende Konzepte fortzuschreiben, Leitfäden und Reaktionsketten zu entwickeln.

Sexuelle Entwicklung von Kindern im Blick haben: Übergriffiges Verhalten versus kindliche Neugierde

Wenn zwei Kinder sich in einer Kita nackig machen, beide freiwillig und neugierig ihre Unterschiede betrachten, ist das völlig normal und altersgemäß, sagt Manuela Grötschel. Die Interims-Leiterin der Fachberatungsstelle ist Kinderschutzfachkraft und betont, dass für diese Bewertung viele Aspekte berücksichtigt werden müsse: Sind die Kinder gleich alt? Ist kein Machtgefälle erkennbar? Passiert es in einer geschützten Ecke und nicht mitten im Morgenkreis? „Dann gehört da keine Aufregung hin“, betont sie.

Yansa Schlitzer vom Kinderschutzbund Duisburg fordert, dass die sexuelle Entwicklung von Kindern verpflichtender Teil der Ausbildung ist.
Yansa Schlitzer vom Kinderschutzbund Duisburg fordert, dass die sexuelle Entwicklung von Kindern verpflichtender Teil der Ausbildung ist. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Machtgefälle könnten auf vielen Ebenen entstehen, etwa zwischen einem kräftigeren und einem schwächeren Kind, oder gegenüber einem isolierten Kind, das nach einer Gegenleistung mitspielen darf. Oder durch unterschiedliche soziale Schichten: Es gebe Kinder, die andere mit materiellen Ressourcen unter Druck setzen: „Lego gegen Gefälligkeit“, nennt das Yansa Schlitzer, Traumatherapeutin und ehemalige Leiterin der Fachberatungsstelle.

Kindergruppen sind nicht basisdemokratisch, es gibt Führerrollen, Underdogs, Ausgegrenzte
Yansa Schlitzer - Kinderschutzbund Duisburg

Kindergruppen sind nicht basisdemokratisch, es gibt Führerrollen, Underdogs, Ausgegrenzte“, zählt Schlitzer auf. Kritisch werde es immer da, wo die Freiwilligkeit aufgehoben wird, und das sei nicht immer leicht zu erkennen: „Von anderen Kindern wird das Verhalten oft gar nicht als unfreiwillig wahrgenommen, auch die Betroffenen nehmen ihre Motive zum Mitmachen nicht unbedingt wahr“.

Die Erzieherinnen und Erzieher müssten sich deshalb mit den Kindern in einem geschützten Rahmen beschäftigen. Im Kita-Alter gehe es nicht um Aufklärung, sondern um Grenzen und Selbstbestimmung: Dass jeder klar bestimmen dürfe, wenn er nicht angefasst werden wolle. „Wenn es keinen Umgang mit solchen Themen in einer Kita gibt, ist die Gefahr groß, dass eine erwachsene Sexualität, ein erwachsener Blick über das kindliche Verhalten gestülpt wird“, beobachten die Expertinnen des Kinderschutzbundes.

Auch interessant

Auf diese Verhaltensweisen sollten Eltern achten

Für Sorgeberechtigte gebe es verschiedene Hinweise, dass bei einem Kind etwas nicht gut läuft. Etwa weil es Rückschritte in der Entwicklung macht, sich wieder einnässt. Alpträume, die die Kinder plagen, können auf Belastendes hinweisen. Auch ein plötzliches sexualisiertes Verhalten, ein nicht altersangemessenes Vokabular oder nicht kindgerechte Handlungen müsse man hinterfragen. Den Penis in den Mund nehmen zu wollen, sei keine kindliche Sexualität, betont Grötschel.

Rückschritte in der Entwicklung können für Eltern ein Hinweis sein, genauer auf ihr Kind zu schauen, sagt Manuela Grötschel vom Kinderschutzbund Duisburg.
Rückschritte in der Entwicklung können für Eltern ein Hinweis sein, genauer auf ihr Kind zu schauen, sagt Manuela Grötschel vom Kinderschutzbund Duisburg. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Klare Grenzen seien allerdings schwierig zu ziehen, es gebe viele Graubereiche zum Beispiel beim Einführen von Gegenständen in Körperöffnungen. Ist das kindliche Neugier, so wie sie sich eine Murmel in die Nase oder eine Erbse ins Ohr schieben? Oder ist es eine Re-Inszenierung von selbst erlebten Übergriffen? „Man muss immer genau gucken“, mahnt Schlitzer. Als Erwachsener könne man auch etwas in eine Situation hineinprojizieren, obwohl es ein bloßes Ausprobieren war.

Auch interessant

Bei Übergiffen in Kitas immer beide Kinder in den Blick nehmen und Unrecht verdeutlichen

Hat es Übergriffe in einer Kita gegeben, müsse man immer beide Kinder anschauen. „Das ist für unter Sechsjährige keine normale Entwicklung“, fürchtet Grötschel. „Auch ein übergriffiges Kind ist ein betroffenes Kind“, ergänzt Schlitzer. Es müsse nicht zwingend Missbrauchserfahrungen haben, es könne auch durch andere Erlebnisse geprägt sein. Studien hätten ergeben, dass übergriffige Kinder oft selbst Gewalt, demütigende Erlebnisse oder Ohnmachtserfahrungen gemacht haben. „Ohne solche Erfahrungen wird kein Kind übergriffig“, ist sich die Therapeutin sicher. Deshalb brauche auch solch ein Kind ein professionelles Unterstützungsangebot.

Es sei keinesfalls als „Täter“ zu bezeichnen, gerade bei Kindergartenkindern werde man dem Thema so nicht gerecht. Es müsse aber klare Begrenzungen des übergriffig agierenden Kindes geben. „Sein Verhalten muss ihm als Unrecht deutlich gemacht werden“, sagt Grötschel. Bagatellisieren würde im Gegenteil bei einem Kita-Wechsel sogar eine Gefahr bergen. „So ein Kind braucht zugleich Korrektur und Wertschätzung.“

Therapeutinnen empfehlen Kitas nach Vorfällen professionelle Hilfe

Kindergärten, die mit solchen Vorfällen umgehen müssen, legen die Therapeutinnen ans Herz, sich professionelle Hilfe zu holen. Es müsse zu viel geklärt werden: Wie geht man mit den Kindern um, wie mit den Eltern, was machen solche Ereignisse mit dem Team, der Kita-Gemeinschaft? Je transparenter eine Kita agiere, desto besser. Der Reflex, so ein Thema nicht an die große Glocke hängen zu wollen, führe oft erst recht zur Eskalation.

Auch interessant