Duisburg. An die Grundschule Humboldtstraße in Duisburg-Hamborn gehen viele Kinder ohne Deutschkenntnisse. Warum die Vorlesewoche auch für sie wichtig ist.

Zur bundesweiten Vorlesewoche kommen oft Prominente wie Bundestagspräsidentin Bärbel Bas in die Schulen, sie sitzen auf kleinen Stühlen und lesen aufgeregten Kindern vor. Wie funktioniert so eine Vorlesewoche jenseits der Kameras, da, wo die wenigsten Kinder Deutsch als Muttersprache haben, wo viele sich nicht lange konzentrieren können, sie Lernschwächen haben, die Klassen mit bis zu 30 Kindern überfüllt sind?

Ortsbesuch in der Gemeinschaftsgrundschule Humboldtstraße in Duisburg-Hamborn. 340 Kinder besuchen die altehrwürdige Schule, die ausgesprochen schön gestaltete Treppenhäuser hat und gemütliche Dielenböden in den Klassen, die weder Schimmelprobleme beklagen muss noch marode Fenster. Sogar Platz ist hier, Container sind nicht nötig.

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An der Grundschule in Hamborn hat nur ein Fünftel Deutsch als Muttersprache

Es ist ein internationales Bullerbü mit vielen Zuwanderer- oder Seiteneinsteigerkindern. 72 der Kinder sprechen daheim Deutsch, sagt Schulleiterin Manuela Hindenburg. Unter den Kindern mit türkischen, syrischen oder ukrainischen Wurzeln „sind in jeder Gruppe zwei oder drei, die kein Wort verstehen“, auch wenn sie in Deutschland geboren wurden. Durch Corona und die fehlende Zeit in den Kindergärten habe sich das Problem deutlich verschärft, nicht nur sprachlich, auch kognitiv und lebenspraktisch fehlen den Kindern Erfahrungen.

An der Schule wiederum fehlen Sprachvorbilder, auf dem Schulhof erklingt ein Sprachmischmasch mit starken türkischen Einsprengseln, so dass manches syrische Kind am Ende seiner Grundschulzeit nicht nur deutsch, sondern auch türkisch sprechen kann.

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Beim Vorlesen klettern die Kinder den Pädagogen auf den Schoß

Die Lehrerinnen und Sozialpädagogen haben sich also was einfallen lassen, um allen gerecht zu werden. Die Kinder dürfen aus den angebotenen Büchern wählen, bekommen „Eintrittskarten“ – und weil alle Kräfte mitmachen, gibt es statt großer Klassen mehrere kleine Gruppen.

Ein Luxus und Möglichmacher: Sonderpädagoge Sascha Mink hat die Schulbücherei bezogen, die Kinder klettern ihm fast auf den Schoß, kriechen ins Buch mit Nase und Fingern. So viel Nähe und Zugewandtheit ist im Schulalltag eher die Ausnahme.

Um mit den Erst- und Zweitklässlern ein Bilderbuch zu erarbeiten, nutzt Lehrerin Mira Dux Kindergarten-Methoden.
Um mit den Erst- und Zweitklässlern ein Bilderbuch zu erarbeiten, nutzt Lehrerin Mira Dux Kindergarten-Methoden. © FUNKE Foto Services | Kerstin Bögeholz

Eine Etage tiefer liest Lehrerin Mira Dux ein Bilderbuch vor. Sie arbeitet wie im Kindergarten, sehr anschaulich, mehr fragend als lesend, die Kinder werden intensiv eingebunden, viele Wörter werden erklärt. Ein kleiner Junge versteht dennoch nichts. Durch seine große Brille beobachtet er die Mitschüler. Aber als alle brüllen dürfen wie der Löwe in der Geschichte, da steigt auch er nach kurzem Zögern ein.

Erstlesebücher für die Dritt- und Viertklässler

In einer Klasse, gemütlich mit Lichterketten geschmückt, werden die Bilder zu einer Geschichte per Beamer an die Wand geworfen. Zuhören ist eine Kunst, die hier viele (noch) nicht beherrschen, auch wenn sie schon neun oder zehn Jahre alt sind und ihre Geschichte ein Erstlesebuch ist. Ihre Unruhe dürfen sie malend ausleben, so bekommen sie trotzdem noch was mit und stören niemanden.

Mit Schauspieltalent ist Marianne Zahn gesegnet. Die Lehrerin sitzt als leibhaftiger Räuber Hotzenplotz mit großem Hut vor der Schülerschar. Es ist stockdunkel in der Klasse, nur eine Leselampe über dem Buch lässt Schatzkiste und Kaffeemühle zu ihren Füßen erkennen. Mit verstellten Stimmlagen liest sie vor und die Kinder hängen gebannt an ihren Lippen.

Im dunklen Klassenzimmer liest Lehrerin Marianne Zahn als Hotzenplotz aus dem gleichnamigen Buch vor. In der Grundschule Humboldtstraße in Duisburg-Hamborn ist die ganze Woche dem Vorlesen gewidmet.
Im dunklen Klassenzimmer liest Lehrerin Marianne Zahn als Hotzenplotz aus dem gleichnamigen Buch vor. In der Grundschule Humboldtstraße in Duisburg-Hamborn ist die ganze Woche dem Vorlesen gewidmet. © FUNKE Foto Services | Kerstin Bögeholz

Manche von ihnen werden am Ende nur diese besondere Atmosphäre mitnehmen oder den Wechsel in einen anderen Raum, mit anderen Schülern, einem fremden Lehrer, sagt Hindenburg. Mit Kindern, die in der ersten Klasse zunächst lernen müssen, die Jacke allein anzuziehen, ihre Sachen beieinander zu halten oder Treppen zu steigen, könne man die obligatorischen Lernziele nicht erreichen, verdeutlicht die Schulleiterin. Zahlenräume und Mengenverständnis, das Silben klatschen oder reimen komme zwangsläufig später dran.

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Für die ersten beiden Klassen brauchen viele Kinder drei Jahre

Weil ein Drittel der Kinder für die zweijährige Schuleingangsphase drei Jahre braucht, planen sie gerade ein neues Konzept, um Klassen- und Lehrerwechsel zu vermeiden. Durch das breite Spektrum dessen, was den Kindern möglich ist, sei individuelle Förderung schon lange Tagesgeschäft.

Schulleiterin Manuela Hindenburg von der Grundschule Humboldtstraße in Duisburg freut sich über die Kreativität ihrer Kolleginnen und Kollegen bei der Vorlesewoche.
Schulleiterin Manuela Hindenburg von der Grundschule Humboldtstraße in Duisburg freut sich über die Kreativität ihrer Kolleginnen und Kollegen bei der Vorlesewoche. © FUNKE Foto Services | Kerstin Bögeholz

Nicht nur die Lesewoche zeigt: Kleinere Gruppen und mehr Personal sind der Dreh- und Angelpunkt für einen Schulerfolg, der nicht nur vom Elternhaus abhängt, betont Hindenburg. Für die Lehrerinnen und Lehrer sei es eine „immense Belastung, den eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden“. Die Qualität leide, wenn es nur ums kreative Lückenstopfen geht, wenn mit 30 Kindern in einer Klasse für jedes Kind kaum mehr als eine Minute pro Unterrichtsstunde übrig bleibt.

Erschwerend komme hinzu, dass nicht zuletzt seit Corona der Teil derer gestiegen ist, die einen erhöhten Förderbedarf im Bereich Lernen haben. Grundschulen würden so zur Förderschule. Nur ein Bruchteil der Kinder werde nach der vierten Klasse zum Gymnasium wechseln, sagt Hindenburg. Bei den meisten anderen werde sich das Wissen, das ihnen fehlt, in die Sekundarstufe I ziehen. „Wir geben ihnen das Bestmögliche mit, aber was sie in den ersten sechs Jahren nicht gelernt haben, können wir nicht aufholen.“

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>>VON NEUANMELDUNGEN ÜBERRANNT

  • Die GGS Humboldstraße hatte stadtweit die meisten Neuanmeldungen für das nächste Schuljahr. Von den 118 Anmeldungen werden aber maximal 81 angenommen, alle anderen Kinder müssen an andere Grundschulen koordiniert werden.
  • Problematisch ist, dass seit August bereits 15 Kinder hinzugekommen sind und die Schulleiterin auch weiterhin mit einem zusätzlichen Kind pro Woche rechnet. „Das bringt jedes Mal Unruhe in die Klasse.“
  • „In Düsseldorf und Duisburg sind es Zahlen, die verteilt werden, wir arbeiten mit Menschen“, sagt Hindenburg. Es gehe um die Rechte der Kinder. Mit jedem zusätzlichen Kind, das aufgenommen werde, nehme man den anderen 29 etwas weg: Aufmerksamkeit zum Beispiel.