Duisburg. Im Zentrum für Alphabetisierung in Duisburg-Hamborn lernen Kinder und Jugendliche aus aller Welt die deutsche Sprache – und noch viel mehr.
Die Klassen sehen aus wie in einer Grundschule, dabei sind die meisten Schüler mindestens elf Jahre alt, manche fast erwachsen. Aber wenn sie am Zentrum für Alphabetisierung der Gesamtschule Emschertal in Duisburg ankommen, können viele von ihnen schulisch betrachtet: fast nichts.
Viele dieser Kinder sind nie zur Schule gegangen - weil sie es wie manche Roma in ihrem Herkunftsland nicht durften, weil Krieg und Flucht es verhinderten. Oder weil sie in Duisburg keinen Schulplatz bekamen, obwohl sie seit zwei oder drei Jahren hier leben, sagt Dr. Claudia Schadt-Krämer. Sie koordiniert zusammen mit Ulrich Stein vom Landfermann-Gymnasium seit 2017 die Internationalen Alphabetisierungsklassen in Obermarxloh.
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Zuwandererkinder lernen Deutsch - und ganz viele Basiskompetenzen
Unterrichtet wird in verschiedenen Lerngruppen, sortiert nach Leistungsstand. Deutsch lernen sei das Hauptthema, „aber den Kindern fehlen auch viele Basiskompetenzen: Malen, Schneiden, Regeln einhalten, Selbstorganisation“, zählt Schadt-Krämer auf.
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Die Nationalitäten sind bunt gemischt, Deutsch wird so die einzige, alle verbindende Unterrichtssprache, ergänzt Stein. Er setzt außerdem auf Mathe, weil man da die wenigsten Deutschkenntnisse braucht. Trotzdem ist es hilfreich, dass Stein türkisch spricht, Sozialpädagogin Christiane Herberth beherrscht Rumänisch, Schadt-Krämer rettet sich ins Spanische, was bei nicht wenigen Kindern aus Südosteuropa verfängt, die über Madrid in Duisburg landeten.
2017 starteten sie mit 60 Kindern in vier Gruppen, aktuell steht ein Raum leer, bedauert Schadt-Krämer. Einige Lehrer wurden abgezogen, außerdem Kinder vor Beginn der Sommerferien nicht rechtzeitig zugeordnet, „dabei saßen wir mit offenen Armen hier“.
Das Team an der Gesamtschule Emschertal nimmt nicht nur die Kinder in den Blick, sondern auch die Familien, in denen Bildung nicht immer so ein hohes Gut ist. „Da ruft schon mal ein Vater nach der Einschulung an und fragt, ob das Kind am nächsten Tag auch noch kommen muss“, beschreibt Schadt-Krämer die kulturellen Unterschiede.
Sozialpädagogin Christiane Herberth hat deshalb einen Raum der Begegnung geschaffen. Hierher kommen die Kinder, um sich für die Pause einen Ball zu holen oder ein Puzzle zu spielen. Memory legen, Bügelperlenbilder basteln - „hier machen sie Erfahrungen, die sie vorher nicht hatten“, sagt Herberth, auch die Jungs.
In Kooperation mit Immersatt gibt es morgens ein gesundes Frühstück. Und die Eltern kommen zum Café, suchen Dolmetscherhilfe, vernetzen sich, tauschen sich aus - und lernen ganz nebenbei, wie Schule in Deutschland funktioniert.
Einfache Sprachübungen: Wie heißt du? Wo wohnst du?
Beim Besuch an der Schule arbeitet Stein am Overheadprojektor mit seiner Klasse – hier sitzen Kinder aus der Ukraine, aus Bulgarien, Moldawien, Syrien und Brasilien. Nikita hilft seinen ukrainischen Mitschülern, weil er schnell Deutsch gelernt hat. Vor acht Monaten kam er nach Duisburg, seit zwei Monaten besucht er den Unterricht. Mit seinen Fähigkeiten kann er bald in eine Regelklasse koordiniert werden. Auch bei Soljanka läuft es gut, flüssig liest sie den Lückentext vor, der an die Wand geworfen wird, mit charmantem Akzent, fehlerlos.
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Im Raum nebenan ist die Gruppe geteilt. Die eine ist schon fortgeschritten, formuliert selbstständig einen Text in die Zukunft um. Die andere hockt im Kreis um ihren Lehrer Holger Krull und macht einfache Sprachübungen: Wie heißt du? Wo wohnst du? Übersetzungsprogramme vermeidet Krull möglichst, „ich wiederhole so lange, bis sie mitmachen, mitsprechen“.
Am Anfang ist hier das Wort, denn die meisten Kinder aus Südosteuropa, auch manche aus dem Irak oder Syrien beherrschen ihre Herkunftssprache nur mündlich, hat Krull beobachtet. Bei den ukrainischen Schülern könne man anders ans Sprache lernen herangehen, mit Vokabeln, Grammatik, eigenen Notizen.
Jugendliche üben das Schreiben mit Schwungübungen an der Tafel
Apropos Schreiben, das üben sie parallel in der Nachbarklasse, wo viele Neuankömmlinge sitzen. An der grünen Tafel malen Jugendliche mit Kreide Schwungübungen zwischen die Linien, lauter „C“ in Reihe. Die Zunge im Mundwinkel, Zeigefinger auf den Stift gedrückt, versuchen die anderen es auch in ihren Grundschulheften. Dabei sind sie kurz vor der Pubertät oder mittendrin.
Die individuelle Sprachförderung bleibt eine knappe Rechnung: 17 Kinder in einer Klasse, die 45 Minuten Unterricht haben: Mit allem davor und danach kann jeder maximal zwei Minuten sprechen, rechnet Krull vor. Ein halbes Jahr Deutschunterricht reiche für viele kaum. Inhaltlich sind die meisten ihrer Schüler im Fachunterricht einer deutschen Schule ohnehin überfordert, beobachten die Koordinatoren. „Hier können wir sie nicht auf Physik oder Chemie vorbereiten.“
Frust nach dem Wechsel in eine Regelklasse
Mit Sorge beobachten die Lehrer den weiteren Weg ihrer Schüler, die nach zwei Jahren in eine Regelklasse wechseln und da „reihenweise sitzen bleiben“. Frustrierend sei das, sagt Schadt-Krämer. Nachmittägliche Sprachförderung werde zwar angeboten und könnte helfen, werde von manchen aber als Strafe aufgefasst. Zur Wahrheit gehöre auch, dass manche gar nicht lernen wollen, weil sie zum Beispiel mit ihren Türkisch-Kenntnissen im Duisburger Alltag gut klar kommen.
Die vollen Klassen sind ebenfalls ein Hindernis. „Wenn an einer Gesamtschule von 30 Kindern zehn schwer erziehbar sind, dann lügen wir uns was in die Tasche, wenn wir sagen, wir machen auch noch sprachsensiblen Unterricht“, sagt Dr. Claudia Schadt-Krämer. „So viel kann man in einer Stunde alleine nicht erklären. Es müsste in jeder Klasse eine Doppelbesetzung geben, damit man allen gerecht werden kann.“
>>DAS DUISBURGER MODELL SETZT AUF GRUNDSCHULPÄDAGOGIK
Dr. Claudia Schadt-Krämer bezeichnet das System an der Gesamtschule Emschertal als Duisburger Modell, das sie zusammen mit dem Team vor fünf Jahren aus dem Boden gestampft hat und das ursprünglich an mehreren Standorten umgesetzt werden sollte. „Man muss die Kinder da abholen, wo sie stehen“, ist ihr Mantra. Die promovierte Pädagogin setzt deshalb auf Grundschulpädagogik: „Die Kinder müssen nicht wissen, was ein Modalverb ist, sie müssen ins Sprechen kommen, sich verständigen lernen.“
Das Prinzip zieht sich durch: Elternbriefe werden denkbar knapp gehalten, mit kurzen Botschaften in einfacher Sprache, fett markierten Daten, nach Möglichkeit mit Bildern. „Wir bringen den Familien Freundlichkeit und Verständnis entgegen“, ergänzt Christiane Herberth. „Würde ich seit wenigen Monaten in China leben, wäre ich auch mit allem überfordert.“
Das Zentrum für Alphabetisierung gehört zur Gesamtschule Emschertal und ist in den Räumen des ehemaligen Clauberg-Gymnasiums untergebracht. Jahrgang 9 ist hier aktuell fünfzügig, ab 2024 wird er sechszügig und dann werden die Räume eigentlich gebraucht. Was dann mit dem Zentrum wird, sei ungewiss und hänge „wie ein Damoklesschwert über uns“, sagt Schadt-Krämer, zumal sie und der Kollege Stein absehbar in den Ruhestand gehen.
Dazu erklärt eine Sprecherin der Bezirksregierung Düsseldorf auf Nachfrage, dass das Konzept der Beschulung von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache an der Gesamtschule Emschertal zwar „hervorragend strukturiert und umgesetzt wird“. Die Einzelintegration von Kindern in bestehende Regelklassen sei „aufgrund der stärkeren gesellschaftlich integrativen Impulse das anzustrebende Ziel“. Da die Schule eine standardisierte Sprachbildung als Gesamtaufgabe sieht, könnten nach Ausscheiden der derzeitigen Koordination neue Personen mit der Aufgabe betraut werden, die sukzessive in die Übernahme der Aufgaben eingeführt werden.