Duisburg. Die Loveparade in Duisburg sollte der Höhepunkt des Kulturhauptstadt-Jahres werden. Eine Massenpanik forderte 21 Tote und zahlreiche Verletzte.
Es gibt diese Ereignisse, bei denen man auch Jahrzehnte später weiß, wo man war: Der Mauerfall ist so einer, der 11. September 2001, als die Terroranschläge in New York die Welt schockten, ein zweiter. Nie vergessen sein wird auch der 24. Juli 2010. Das Ruhrgebiet ist Kulturhauptstadt, und in Duisburg steigt die größte Technoparty der Welt: die Loveparade.
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Kurz nach 17 Uhr laufen die ersten Meldungen über die Nachrichtenticker: Tote bei der Loveparade in Duisburg, von fünf ist die Rede, es sollten schnell mehr werden. 21 junge Menschen verloren an der Rampe und im Tunnel ihr Leben, erdrückt von den Massen. 652 – so die spätere, offizielle Zahl – werden verletzt, traumatisiert. Viele von ihnen leiden noch heute an den Folgen der Katastrophe.
Loveparade in Duisburg: Das Handynetz ist zusammengebrochen
„Wo bist Du?“, kurz nach 17 Uhr klingelte das Telefon. „Bist Du auf der Loveparade?“ Papas Stimme klang anders als sonst. Besorgt. „Nein, ich bin einkaufen. Gar nicht in Duisburg.“ „Es gibt Tote auf der Loveparade.“ Tote? Der Einkauf war noch nie so schnell beendet. Freunde wollten auf die Party. Der Versuch, sie zu erreichen, scheitert. Längst ist das Handynetz zusammengebrochen. Das Netz, über das auch die Rettungskräfte kommunizierten. Einer von vielen schwerwiegenden Fehlern in der Organisation der Veranstaltung, wie sich später zeigen wird.
Duisburg, zehn Jahre nach der Loveparade-Katastrophe
Es ist ein sonniger Samstag, bestes Partywetter, als schon gegen Mittag die Duisburger Innenstadt mit Ravern und jungen Feierlaunigen voll, später weiß man, überfüllt war. Hunderttausend hatten sich vom Bahnhof aus auf den Weg zum alten Güterbahnhofsgelände gemacht.
Katastrophe in Duisburg: Die Nottreppe nach oben
Aus zwei Richtungen wurden sie durch den Karl-Lehr-Tunnel dorthin geleitet, die Wege waren eingezäunt, an den Zugangsschleusen gab es bereits mittags Gedränge. Im Tunnel und an der Zugangsrampe, die auch zugleich der Ausgang war, wurde es immer enger. Besucher versuchten, über eine gesperrte schmale Nottreppe zum Gelände hochzusteigen, andere kletterten über ein Lautsprechergerüst. Dabei stürzten einige ab. Panik brach aus. Die Massen drückten weiter durch den Tunnel zur Rampe. Fluchträume? Die gab es nicht.
„Das war programmiertes Chaos“, sagten Augenzeugen.
Während die Party oben auf dem Gelände 15 Floats aus aller Welt für hämmernde Beats und ausgelassene Stimmung sorgten, kämpften im Tunnel Menschen um ihr Leben.
„Überall lagen Menschen auf dem Boden herum. So stelle ich mir Krieg vor“, sagte ein Augenzeuge.
Im Tunnelbereich gab es keine Ausweichmöglichkeit.
Duisburg, 24.07.2010, 16.30 Uhr: Die Situation eskaliert
Die Situation eskaliert gegen 16.30 Uhr. Einer der ersten Notärzte an der Unglücksstelle ist Frank Marx. Mit seinem Funkgerät in der Hand läuft der ärztliche Leiter des Rettungsdienstes bei der Duisburger Feuerwehr ins Chaos: Um ihn herum liegen Ohnmächtige, Verletzte, Betrunkene. Raver, die den Tag mit Tanzen und Feiern verbringen wollten, knien neben hilflosen Loveparade-Besuchern, stemmen sich auf ihre Brustkörbe, reanimieren. Die Gesichter der Verletzten sind eingestaubt, verdreckt, viele bluten.
„Sie sahen aus, als hätten sie ein Grubenunglück hinter sich“, sagt Notarzt Frank Marx.
Während immer mehr Rettungskräfte aus den umliegenden Städten nach Duisburg geholt werden, am Ende waren 4000 im Einsatz, geht die Party auf dem Gelände weiter. Der städtische Krisenstab hat dies entschieden, um nicht eine weitere Panik aufkommen zu lassen. Gegen 23 Uhr endet die Party offiziell.
Die Katastrophe dieses Samstags im Juli 2010 wirkte noch lange nach...
... – bei den Opfern und Hinterbliebenen, die auch elf Jahre nach dem Unglück mit den körperlich und seelischen Wunden zu leben haben. „Es ist manchmal so, als laufe meine Seele neben meinem Körper“, sagte eine Überlebende mal in einem Interview. Es vergehen mitunter Jahre, bis viele Opfer wieder ins Leben zurückfinden.
...nach – in der Politik. Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland muss sich einen Tag später ersten Vorwürfen und Fragen stellen. Wie konnte das Unglück passieren? Sauerland streitet ab, dass er es war, der die Loveparade nach Duisburg holte. Die Duisburger sind wütend, auch die Kommunalpolitiker boykottieren den OB, der keine Verantwortung übernehmen will und nicht die richtigen Worte findet, um Trost zu spenden. 2012 wählen die Duisburger ihn aus dem Amt.
...nach – in der Justiz. Erst vor einem Jahr wurde der Loveparade-Prozess, der im Dezember 2017 in Düsseldorf begann, ohne Urteil eingestellt. Zehn Angeklagte – vier Mitarbeiter von Lopavent und sechs städtische Mitarbeiter – mussten sich wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung verantworten. Veranstalter Rainer Schaller oder Duisburgs Ex-OB Adolf Sauerland werden nur als Zeugen vernommen.
Loveparade-Katastrophe: Schwere Planungsfehler und rechtswidrige Genehmigung
Oberstaatsanwalt Uwe Mühlhoff warf den Angeklagten schwere Planungsfehler vor, die zu einer rechtswidrigen Genehmigung geführt hätten. „Die Veranstaltung hätte in der Form nicht genehmigt werden dürfen“, betonte Mühlhoff. Sicherheitsrelevante Auflagen seien nicht beachtet und umgesetzt, die Einhaltung nicht kontrolliert worden. Mehrere Angeklagte hätten auch erkannt, dass die Auflagen nicht umgesetzt worden seien.
Allerdings reichten die Beweise und Indizien nicht für eine Verurteilung aus. Der Vorsitzende Richter Mario Plein spricht von einer „Katastrophe ohne Bösewicht“. Den habe man im Prozess nicht finden können. „Wir können erklären, wie es zu der Katastrophe gekommen ist.“ Die Steuerung am Veranstaltungstag sei unkoordiniert gewesen, das Konzept nicht geeignet.
Loveparade-Prozess eingestellt – Kein Urteilsspruch
Im Frühjahr 2019 wurde das Verfahren gegen sieben Angeklagte wegen geringer Schuld eingestellt. Drei Angeklagte sollten eine Geldstrafe zahlen, legten Widerspruch ein. Kurz vor der Verjährung wurde auch gegen sie das Verfahren eingestellt. „Bei Würdigung der Gesamtstrafe erscheint die Fortführung des Prozesses mit Blick auf die Strafe, die die Angeklagten zu erwarten hätten, als nicht mehr verhältnismäßig“, so die Staatsanwaltschaft.
- 2020 erschien der Funke-Podcast „Loveparade 2010 – Die Geschichte einer Tragödie“
Dass nach jahrelanger Verhandlung kein Urteil gefällt wurde, sorgt für Fassungslosigkeit. Von einem „unfassbaren Versagen der Justiz“, einem „Schlag ins Gesicht für alle Angehörigen der Opfer“ oder „einem einzigen juristischen und politischen Fiasko“ sprechen Augenzeugen und Kommentatoren.
Auch Loveparade-Gründer Dr. Motte fasst es nicht: „Wie kann es sein, dass 21 Menschen sterben und niemand ist verurteilt?“