Duisburg. Am 28. Oktober 1938 wurden 160 ostjüdische Duisburger aus dem Schlaf gerissen und nach Polen deportiert. Augenzeugen erlebten Resignation.
Die erste Massendeportation in Nazi-Deutschland kam auch für die jüdischen Duisburger überraschend und traf die etwa 160 Menschen unvorbereitet: Am 28. Oktober 1938 wurde dieses unrühmliche Kapitel deutscher Geschichte geschrieben – und weitgehend vergessen: die sogenannte Polenaktion.
Am Abend des 27. Oktober 1938 wurden der Flickschneider Sendel Grynszpan, seine Frau Riwka und ihre Kinder Berta und Markus aus ihrer Wohnung in der Hannoverschen Altstadt zur Polizeiwache geschleppt und eingesperrt. Mit ihnen ein paar Hundert andere Ostjuden. Die Familie Grynszpan lebte seit dem Jahre 1911 in Hannover, alle drei Kinder waren hier geboren.
Ostjuden lebten in Duisburg vor allem in der Altstadt
Wie in Hannover wurden auch in Duisburg, wo insbesondere in der Altstadt um die Universitätsstraße herum zahlreiche Ostjuden lebten, die Menschen aus dem Schlaf gerissen. Jeder erhielt einen Ausweisungsbefehl in die Hand gedrückt. Die Juden mussten sofort einige Habseligkeiten zusammenpacken, um in Polizeigewahrsam genommen zu werden.
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Einige Wochen vorher hatte die polnische Regierung angeordnet, alle im Ausland lebenden polnischen Staatsangehörigen müssten bis zum 29. Oktober 1938 ihre Pässe von den Konsulaten kontrollieren lassen. Das beschlossene Gesetz sah vor, dass jeder polnische Bürger, dessen Pass nicht bis zum 29. Oktober 1938 verlängert war, das Recht auf Rückkehr nach Polen verlor.
Schriftsteller Walter Kaufmann hat über die Aktion berichtet
Da die Reichsregierung befürchtete, dass die Pässe nicht verlängert würden, beschloss sie kurzerhand, sich der unerwünschten ostjüdischen Minderheit durch Abschiebung zu entledigen. Etwa 18.000 Juden wurden am 28. Oktober 1938 unter unvorstellbar schikanösen Begleitumständen zur polnischen Grenze verschleppt und abgeschoben.
Es gibt eine Quelle über die Deportation der Duisburger Ostjuden. Der Schriftsteller Walter Kaufmann, Sohn des damaligen Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Duisburgs, Dr. Sally Kaufmann, hat in seinem Roman „Stimmen im Sturm“ die Ereignisse der „Polenaktion“ literarisch verarbeitet. Auf irgendeine Weise war Sally Kaufmann über die Abschiebeaktion benachrichtigt worden, fuhr mit dem Taxi von seinem Haus in der Duisserner Prinz-Albrecht-Straße zum Hauptbahnhof, der bereits von der Polizei abgesperrt war.
Männer, Frauen und Kinder wurden zum Hauptbahnhof gebracht
Was dann folgte, liest sich bei Walter Kaufmann so: „Vor der Bahnhofshalle parkten Einsatzwagen der SS, mehrere Militärfahrzeuge und eine Reihe von Polizeiautos, von deren Dächern Scheinwerfer eine dichte Menge sich drängender Männer, Frauen und Kinder aus dem Dunkel rissen. Reisende, die verstohlen durch die rechte Glastür ein- und ausgingen, wagten es kaum, den Kopf zu wenden, und sahen zu, dass sie eilig verschwanden“.
Über die Opfer heißt es dann weiter: „Er [Sally Kaufmann] hatte Wehklagen und Gezeter erwartet, keineswegs diese stille Resignation der aus allen Ecken der Stadt auf Lastwagen und in Bussen herbeigeschafften Menschen. Die Juden wehrten sich nicht, waren lediglich bemüht, sich mit ihren Bündeln, Koffern und Schachteln nicht gegenseitig zu behindern. Es war, als hätten sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden.“
Frierende Menschen mussten ausharren
Bald war die Bahnhofshalle voll gepfercht. Die Eingänge wurden geschlossen, und die SS-Posten zogen Seile, um die Juden von den Schranken und Schalterfenstern zu trennen. Gestapo, Polizei und der Bahnhofsvorsteher begannen zu streiten. Allgemeine Verwirrung machte sich breit. Offensichtlich stand der Sonderzug nach Polen noch nicht auf dem vorgesehenen Gleis. „Ein SS-Führer fauchte etwas von Schlamperei und Sabotage“, so Walter Kaufmann.
Inzwischen war es vier Uhr morgens. Die Menschen froren, die Koffer waren an die Wand gestellt worden, damit die Älteren sich setzen konnten. Für die Kinder waren notdürftig Schlafstellen bereitet worden. Irgendwann gab ein SS-Führer den Befehl: „Fertigmachen und zur Kontrolle vortreten, dann ab zum Bahnsteig vierzehn, Gleis B“. Ein Uniformierter des Sondereinsatzes verlas die Namen der Familien.
Zurück blieben ein Gebetbuch, eine Puppe, ein Kinderschuh
Um 5.37 Uhr war die Bahnhofshalle geräumt. Polizei, SS-Posten und Gestapo waren im Tunnel verschwunden, die Scheinwerfer vor dem Bahnhof erloschen. Walter Kaufmann: „Grau und trist lag jetzt die Halle da. Ein paar Reisende bewegten sich beklommen auf die Schalter zu. Zwischen den Seilen hatten Putzfrauen schon begonnen, die Fliesen zu fegen. Eine hob ein Gebetbuch auf, eine Puppe, einen Gürtel, einen Kinderschuh“.
Im Bahnhof traf Kaufmann auf Rabbiner Neumark. Beiden gelang es, Zutritt zum Bahnsteig zu erwirken, um Abschied zu nehmen. Der Rabbiner sprach den Priestersegen für den leidvollen Weg. „Der Herr segne und behüte euch! Der Herr lasse sein Antlitz über euch leuchten und sei euch gnädig! Der Herr wende euch sein Angesicht zu und schenke euch Frieden!“ So die Segensformel aus dem Buch Mose, die im Synagogenritual wie auch in der häuslichen Feier eine große Rolle spielt.
Die Hoffnung auf Wiederkehr erfüllte sich nicht
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Sally Kaufmann nahm von einzelnen Leuten noch Adressen von Familienangehörigen im Ausland entgegen, denen er Nachrichten über ihre Angehörigen mitteilen und die er darum bitten sollte, Visa für sie zu besorgen, das dann an Dr. Kaufmann geschickt werden möge.
Manass Neumark hat in einem Brief an Sohn und Tochter, die bereits in Palästina lebten, die Deportationsmaßnahme nahezu emotionslos festgehalten. „Vorigen Freitag mussten wir in Duisburg circa 160 Personen verabschieden, und konnten sie bei der Kürze der Zeit nur unzureichend mit Nahrung und Kleidung ausstatten. Sie sind bei Bentschen über die polnische Grenze gekommen und warten dort in Sammellagern [...] den Ausgang der Verhandlungen über ihre etwaige Rückkehr ab“.
Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Für die meisten der betroffenen Ostjuden war es ein letzter Aufschub auf einem Weg ohne Wiederkehr. Eine große Anzahl der abgeschobenen Ostjuden gelangte nach Posen, wo sie von jüdischen Familien aufgenommen wurden. Neumark trat mit seinem Bruder David, der dort noch wohnte, in Verbindung und bat ihn um Unterstützung bei der Hilfsaktion.
SS trieb die Menschen mit Peitschen zur polnischen Grenze
Punkt 5.53 Uhr setzte sich der Sonderzug in Richtung Polen in Bewegung. Dem von Duisburg aus abgehenden Transport wurden noch 44 Personen aus Oberhausen, sechs aus Dinslaken, vier aus Homberg und drei aus Moers zugefügt. Was den Deportierten an Leid zugefügt wurde – sie besaßen oft nicht mehr als die dünnen Kleider, die sie auf dem Leibe trugen – lässt sich schwer beschreiben.
Am Grenzbahnhof Bentschen wurde ihnen alles Geld bis auf zehn Mark abgenommen, dann jagte man sie zu Fuß die letzten Kilometer bis zur Grenze. „Die SS-Leute trieben uns mit Peitschen an“, erinnerte sich der alte Grynszpan 1961im Jerusalemer Eichmann-Prozess, „und denen, die nicht mitkamen, versetzten sie Peitschenhiebe und Blut floss. Sie rissen uns unsere Koffer weg, sie behandelten uns auf die brutalste Weise, damals sah ich zum ersten Mal die wilde Brutalität der Deutschen.“
Herschel Grynspan übte Rache und erschoss Ernst vom Rath
Berta Grynszpan war es noch gelungen, ihrem 17-jährigen Bruder Herschel, der bei seinem Onkel in Paris lebte, eine Postkarte zu senden, auf der er das Schicksal der Familie schilderte. Herschel Gryszpans Entschluss stand sofort fest: Er kaufte sich einen Revolver und begab sich am 7. November 1938 zur deutschen Botschaft in Paris.
Grynspzan, der vorgab, dem deutschen Botschafter ein wichtiges Dokument übergeben zu müssen, wurde zum Legationssekretär Ernst vom Rath geführt, dessen Familie ursprünglich aus Duisburg stammte (Vom-Rath-Straße). Mit den Worten: „Sie sind ein dreckiger Boche, und nun übergebe ich Ihnen im Namen von 12.000 verfolgter Juden das Dokument“, zog er den Revolver, an dem noch der rote Faden des Preisetikettes hing und feuerte mehrere Schüsse ab. Grynszpan ließ sich widerstandslos festnehmen.
Die Duisburger „National-Zeitung“ schrieb von „jüdischer Mordsucht“
Ernst vom Rath erlag am 9. November 1938 seinen Verletzungen. Die Duisburger „National-Zeitung“ titelte am 10. November 1938: „Gesandtschaftsrat vom Rath gestorben. Ein Opfer jüdischer Mordsucht“. Über vom Raths Herkunft brachte das Blatt folgende Hinweise: „Er entstammt der bekannten rheinischen Familie vom Rath, die in Duisburg und Köln ansässig ist.“ Die Nazis nahmen seinen Tod zum Anlass, einen von langer Hand geplanten Pogrom zu inszenieren: die „Reichskristallnacht“.
>>ÜBER DEN AUTOR
- Der 1945 geborene Dr. Ludger Heid studierte Geschichte, Judaistik und Pädagogik an der Universität Duisburg. Anschließend hielt er sich zu einem Forschungsaufenthalt in Israel auf und arbeitete ab 1974 als Lehrer in Duisburg.
- Er promovierte mit einer Arbeit über die Geschichte der Sozialdemokratie in Duisburg von 1848 bis 1878. Heute forscht er vor allem über jüdisches Leben. 2011 veröffentlichte er ein Buch über Ostjuden in Duisburg: „Bürger, Kleinbürger, Proletarier. Geschichte einer jüdischen Minderheit im Ruhrgebiet“.