Duisburg. . Knapp fünf Jahre nach der Loveparade-Katastrophe sind weiter viele Fragen offen. Ankläger und Gutachter stehen in der Kritik. Das Gericht sagt, es arbeite schnell.
„Manchmal“, sagt Julius Reiter, „kriege ich Zweifel, ob das Verfahren das alles leisten kann, was von ihm erwartet wird.“ Das mag sein – derzeit weiß aber auch er als Anwalt von rund 100 Opfern der Duisburger Loveparade-Tragödie noch nicht einmal, wann der Prozess überhaupt beginnen wird. Frühjahr 2016?
Seit mehr als einem Jahr prüft das Landgericht Duisburg, ob es die Anklage der Staatsanwaltschaft gegen sechs Beschuldigte der Stadt und vier des Veranstalters überhaupt zulassen wird. Immer wieder tauchen Fragen auf, gerade erst noch ein weiteres Gutachten. Fast fünf Jahre nach dem Unglück mit 21 Todesopfern ist immer noch vieles ungeklärt – woran liegt das?
Dreieinhalb Jahre Ermittlungen
Dreieinhalb Jahre haben die Ankläger der Staatsanwaltschaft gebraucht, um ihre Ermittlungen abzuschließen. Sie erarbeiteten eine 37 000 Seiten starke Hauptakte und schickten dem Landgericht Datenträger mit 807 Terabyte: Bilder, Videos, Audiodateien. Die Anklageschrift ist 556 Seiten dick. „Wir haben jeden Stein umgedreht“, beteuert Sprecherin Anna Christiana Weiler und: „Aus unserer Sicht ist alles glatt gelaufen.“
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Das sieht man beim Gericht anders. Denn es hat dem britischen Panikforscher Keith Still, auf dessen Expertise die Staatsanwaltschaft die Anklage maßgeblich stützt, 75 Fragen in 15 Themenkomplexen geschickt, die er bis Ende Mai beantworten soll. Gerichtssprecher Bernhard Kuchler stellt klar, dass ihm Kritik an der Staatsanwaltschaft fern liege. Aber er räumt in aller Diplomatie ein: „Die Kammer würde nicht fünfundsiebzig Fragen stellen, wenn sie nicht fünfundsiebzig Fragen hätte.“
Weitere Fragen an den Gutachter
Für Julius Reiter sind die Nachfragen an den Gutachter „eine Ohrfeige für die bisherige Arbeit der Staatsanwaltschaft“. Die Fragen des Gerichts hätte sie bereits selbst stellen können. Damit werde das Verfahren weiter verzögert. Reiter: „Das ist für Opfer und Angehörige desillusionierend.“ Keine Kritik am Gericht: Das wolle auf Nummer sicher gehen, damit es keine Schlappe im Strafprozess erleide. „Die Fragen an den Sachverständigen“, so Reiter, „dienen der Absicherung. Mit dem Gutachten steht und fällt die Anklage.“ Wenn es im Prozess nicht erschüttert werden könne, sei eine Verurteilung der Angeklagten am Ende „sehr wahrscheinlich“.
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Die Staatsanwaltschaft beharrt darauf, dass sie die Fragen gestellt habe und sie zu ihrer Zufriedenheit beantwortet sehe. Still, so Weiland, habe „physikalische Erkenntnisse geliefert, die von uns rechtlich bewertet worden sind. Aus unserer Sicht war alles nachvollziehbar.“
Warum sitzt kein Polizist auf der Aklagebank?
Allerdings hatte Still auch der Staatsanwaltschaft Kopfschmerzen bereitet. Sein 20-seitiger „Abschlussbericht“ traf dort per Mail im Dezember 2011 ein. 41 Fragen hatte die Behörde, haarsträubende Übersetzungsfehler machten später die Runde, die mögliche Befangenheit einer Mitarbeiterin wurde diskutiert. Seit mehr als drei Jahren doktert der Professor aus Manchester an seinem Werk herum.
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Das Gericht stieß selbst bei der jüngsten Fassung auf Widersprüchliches, und darüber hinaus fragt nicht nur Opferanwalt Reiter, warum eigentlich kein Polizist auf der Anklagebank sitzt. Das wollen zum Beispiel auch die Anwälte der Beschuldigten wissen. Mitte des Jahres sind mögliche Vergehen all derer verjährt, gegen die die Ermittlungen eingestellt wurden. Um die Höchstverjährungsfrist für die Beschuldigten nicht verstreichen zu lassen, muss indes im Juli 2020 ein Urteil in erster Instanz vorliegen.
Der Kölner Strafverteidiger Björn Gercke hat die Rolle Stills als Experten für den Prozess von Beginn an heftig kritisiert: „Er kann noch so viel Fachwissen über Massenveranstaltungen mitbringen, für die Erstellung eines Gutachtens für ein deutsches Strafverfahren ist er ungeeignet.“
Gutachten verlängern das Prozedere
Der Wuppertaler Anwalt Michael Kaps wiederum brachte vor einigen Tagen ein Rechtsgutachten ein, das seiner Auffassung nach die Unschuld der Bauamtsmitarbeiter belegen soll, weil sich die von ihnen genehmigte Nutzungsänderung nur auf das Gelände bezogen habe, nicht auf die Zu- und Abgänge, wo die Menschen erdrückt wurden. „Das sind Verrenkungen, ich schäme mich fast, das zu übersetzen“, schimpft Reiter, der auch Hinterbliebene ausländischer Opfer vertritt. „Es geht letztlich um die Frage, haben Leute eine Veranstaltung genehmigt, von der sie wussten, dass sie nicht genehmigungsfähig war. Und sie wussten es.“
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Eingebrachte Gutachten und Einwände verlängern das Prozedere. „In der Regel sind Anwälte erst im Hauptverfahren so aktiv“, klärt Landgerichtssprecher Bernhard Kuchler auf, „das ist hier eine Besonderheit.“ Alles werde getan, um möglichst schnell zu sein. Alle drei Richter der Kammer befassten sich mit dem Fall, seien „weitestgehend freigestellt“. Kuchler weiß, dass es niemand gerne hört. Aber er sagt es: „Wenn man das mit Wirtschaftsverfahren mit ähnlicher Aktenmenge vergleicht, dann ist das hier überhaupt noch keine lange Zeit.“